Wie bewegt sich ein Skelett? Eine neue Methode Skelettkinematik in sich frei verhaltenden Nagern genau zu quantifizieren
Wie können wir die Bewegungen des unter Fell und Muskeln verborgenen Skeletts eines Tieres messen, während sich dieses frei bewegt? Forschende des MPINB haben eine neue Methode entwickelt, Skelettbewegungen bei sich frei verhaltenden Nagern mit bislang unerreichter Genauigkeit zu quantifizieren. Sie basiert auf der Erstellung eines Skelettmodells, das anatomische Prinzipien wie Grenzen der Gelenkrotation und mögliche Bewegungsgeschwindigkeiten zu Grunde legt. Dieser Ansatz, in Nature Methods vorgestellt, eröffnet neue Möglichkeiten, die Interaktion von Tieren mit ihrer Umgebung zu untersuchen und Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie das Zentralnervensystem komplexes Verhalten steuert.
Haben Sie sich schon einmal vorgestellt, wie sich Ihr eigenes Skelett im Laufe des Tages bewegt? Wenn wir über diese Frage nachdenken, haben wir unmittelbar Röntgenbilder vor Augen. Wie könnte man aber die Skelettbewegungen bei einem Tier messen, welches frei herumläuft oder springt und mit seiner Umgebung interagiert? Röntgenbilder kommen hierfür nicht in Frage. Und warum ist es überhaupt von Bedeutung, wie sich das Skelett eines Tieres im Detail bewegt? Durch die Untersuchung von Tieren, die frei agieren können, erhalten wir unschätzbare Einblicke in ihr Verhalten und ihre Entscheidungen, beispielsweise bei der Partnerwahl, bei der Aufzucht ihres Nachwuches, beim Beutefang oder auf der Flucht vor Fressfeinden. Zahlreiche wissenschaftliche Studien haben sich mit der Messung von tierischem Verhalten an sich befasst, doch die Mechanik der Bewegungen der Tiere ist deutlich weniger gut untersucht. Diese zu verstehen und in Bezug zur Nervenaktivität in Gehirn und Rückenmark zu setzen ist aber essentiell, um tiefe Einblicke in Gehirnfunktionen zu erhalten. Denn es ist die Aktivität des Zentralnervensystems, die zu Entscheidungen des Tieres führt, welche letztlich in Bewegungen umgesetzt werden.
Die Bewegungen einzelner Knochen ohne Röntgengerät zu analysieren, also nur durch den Blick von außen, ist eine enorme Herausforderung, da Fell, Haut und Weichteilgewebe die Knochen überlagern. Mittels verschiedener Methoden des maschinellen Lernens ist es seit kurzem möglich, die Körperhaltung eines Tieres und sogar Änderungen des Gesichtsausdrucks detailgenau zu vermessen. Jedoch können mit keiner der verfügbaren Techniken Veränderungen der Knochenpositionen oder Gelenkbewegungen exakt ermittelt werden, wenn diese von der sichtbaren Körperoberfläche verdeckt werden.
Forschende der von Prof. Dr. Jason Kerr geleiteten Abteilung Organisation des Gehirns und Verhaltens am Max-Planck-Institut für Neurobiologie des Verhaltens – caesar in Bonn (MPINB) haben nun eine neue videobasierte Methode entwickelt, um Bewegungen des Skeletts eines sich frei bewegenden Tieres dreidimensional zu erfassen - aufgelöst bis hin zur Bewegung einzelner Gelenke. Das sogenannte Anatomically Constrained Model (ACM) beruht auf einem anatomisch basierten Skelett, welches die Skelettkinematik des Tieres herleitet. Mit diesem Ansatz gelang es den Forschenden, Schritt für Schritt zu vermessen, was sich auf Ebene des Skeletts abspielte, während das Tier lief, sich streckte oder sprang. Dieser neue Ansatz lässt sich nicht nur an verschiedene Tierarten wie Mäuse oder Ratten anpassen, sondern auch an Größe und Alter des individuellen Tieres. Um sicherzustellen, dass ihr neuer Ansatz tatsächlich verlässliche Daten liefert, verglich das Forscherteam, gemeinsam mit Kolleg*innen des Tübinger Max-Planck-Instituts für Biologische Kybernetik, die Daten ihres ACM-Modells mit MRT-Bildern des tatsächlichen Skeletts.
"Unsere neue Methode ist kontaktlos und relativ einfach. Das Tier wird von mehreren Überkopfkameras gefilmt. Dieser Ansatz löst viele Probleme, die bei der Analyse der Bewegung von sich frei verhaltenden Nagetieren auftreten können, insbesondere bei solchen Arten, die ein dichtes Fellkleid haben oder deren Körper Beine und Füße verdeckt.“ sagt Prof. Dr. Jason Kerr, der die Studie gemeinsam mit Prof. Dr. Jakob Macke aus Tübingen leitete.
Einer der nächsten Schritte ist die Kombination des neuen Ansatzes mit simultanen Messungen der Nervenaktivität im Gehirn mit den am MPINB entwickelten kopfgetragenen Miniatur-Multiphotonenmikroskopen. So kann die neuronale Aktivität genau mit dem tatsächlichen Verhalten korreliert werden, um herauszufinden, wie das Gehirn selbst komplexes Verhalten steuert. Das Bonner Forscherteam plant darüber hinaus, seine neue Methode auch bei anderen Tierarten anzuwenden, um deren Bewegungskinematik zu messen, sowohl in ihrer natürlichen Umgebung als auch gleichzeitig bei mehreren Tieren. „Mit unserem neuen Ansatz werden wir zum einen weitere Erkenntnisse darüber gewinnen, wie Tiere mit ihrer Umwelt agieren und zum anderen hoffen wir auf neues Wissen darüber, wie Tiere miteinander interagieren.“ sagt Jason Kerr.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Prof. Dr. Jason N.D. Kerr, jason.kerr@mpinb.mpg.de
Originalpublikation:
https://www.nature.com/articles/s41592-022-01634-9
Weitere Informationen:
https://mpinb.mpg.de/de/forschungsgruppen/forschungsgruppen/organisation-des-gehirns-und-verhaltens/forschungsschwerpunkt.html
https://youtu.be/569u-QI_I6U