Neue Leitlinie empfiehlt: Borderline spezifisch behandeln
Unter Federführung der DGPPN wurde erstmals eine evidenzbasierte Behandlungsleitlinie für die Borderline-Persönlichkeitsstörung erarbeitet. Eine interdisziplinäre Leitliniengruppe mit renommierten Fachleuten aus 23 Fachgesellschaften empfiehlt spezielle, an die Besonderheiten der Borderline-Persönlichkeitsstörung angepasste Psychotherapien, die auch das soziale Umfeld einbeziehen. Mit der Therapie soll bei Bedarf schon im frühen Jugendalter begonnen werden.
Betroffenen fällt es schwer, Gefühle und Verhalten zu regulieren. Sie sind impulsiv, emotional instabil und haben Probleme mit sozialen Beziehungen. Auch selbstverletzendes Verhalten tritt häufig auf. Es dient als Hilfsmittel für den Umgang mit Emotionen: Anspannung kann „abgelassen“, Leere gefüllt werden. Meist ist dieses Verhalten aber schambehaftet. Eine Borderline-Persönlichkeitsstörung wirkt sich auf alle Bereiche des Lebens aus, Betroffene leiden in der Regel stark unter ihren Symptomen.
Die Erkrankung entwickelt sich meist im frühen Jugendalter. Etwa zwei von 100 Personen sind betroffen. Sie wird deutlich häufiger bei Frauen als bei Männern diagnostiziert.
Bislang wird vielfach noch unspezifisch therapiert. Die Behandelnden stützen sich bei ihren Entscheidungen auf Leitlinien aus dem Jahr 2009, die noch keine spezifischen Therapieoptionen benannten. Eine interdisziplinäre Gruppe unter Federführung der DGPPN und Moderation der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) hat mit der neuen S3-Leitlinie nun erstmalig evidenzbasierte aktuelle Empfehlungen für Diagnostik und Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung erarbeitet.
Einheitliche Empfehlungen auf wissenschaftlicher Grundlage
Die zentrale Behandlungsempfehlung der neuen Leitlinie: Borderline-Persönlichkeitsstörungen sollen mit Hilfe spezifischer, strukturierter Psychotherapien von speziell weitergebildeten Therapeutinnen und Therapeuten behandelt werden. Empfohlen werden Programme, die auf klassischen therapeutischen Verfahren aufbauen, aber insbesondere in Bezug auf Beziehungsgestaltung und selbstschädigendes Verhalten die Besonderheiten der Borderline-Persönlichkeitsstörung adressieren. Speziell für die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) und die Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) liegen gute Nachweise der Wirksamkeit vor, wenn Symptome wie selbstverletzendes Verhalten oder Suizidalität im Vordergrund stehen.
Eine medikamentöse Behandlung wird ausdrücklich nicht als primäre Therapie empfohlen. Sofern sie sich in akuten Krisen als nötig erweist, soll sie nach deren Abklingen möglichst schnell wieder beendet werden. Auch stationäre Aufenthalte sollten, wenn überhaupt, nur im akuten Krisenfall zum Einsatz kommen und dann möglichst kurzgehalten werden.
Offenheit gegenüber den Betroffenen
Während man früher annahm, es sei besser, das ohnehin leicht erschütterbare Selbstbild der Borderline-Betroffenen nicht noch mit einer psychiatrischen Diagnose zu belasten, rät die neue Leitlinie zu Offenheit den Betroffenen gegenüber. Wie bei anderen Erkrankungen auch, sollen Aufklärung über die Diagnose und Psychoedukation das Krankheitsverständnis der Patienten verbessern und Behandlungen effektiver machen. Die neue Leitlinie gibt zudem erstmals Empfehlungen für die Arbeit mit Angehörigen und thematisiert auch explizit die Situation von Betroffenen mit Kindern.
Frühe Interventionen
Neu ist auch die Empfehlung für frühe Interventionen: Zwar wird die Erkrankung meist erstmalig im frühen Erwachsenenalter diagnostiziert, Schwierigkeiten im Umgang mit Gefühlen zeigen sich aber häufig schon viel früher. Wartet man mit der Behandlung ab, kann es sein, dass Probleme sich verfestigen. Die Leitliniengruppe ist sich deshalb einig, dass die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung nach einer fachgerechten Diagnostik bereits ab einem Alter von 12 Jahren vergeben werden soll, damit die Betroffenen frühzeitig Unterstützung und borderlinespezifische Behandlungsangebote in Anspruch nehmen können.
S3-Leitlinie
S3-Leitlinien beschreiben den aktuellen Goldstandard in der medizinischen Diagnostik und Behandlung einer bestimmten Erkrankung. Sie basieren auf gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen und der klinischen Expertise unterschiedlicher Fachleute; sie sind das Ergebnis intensiver Beratungs- und Konsensfindungsprozesse in interdisziplinären Gremien. Leitlinien sollen sicherstellen, dass Betroffene fachgerecht und angemessen versorgt werden. Sie sind eine Empfehlung für die Behandelnden, aber rechtlich nicht bindend.
Die jetzt vorliegende Leitlinie ist die erste S3-Leitlinie, die sich speziell auf die Borderline-Persönlichkeitsstörung bezieht. Sie wurde unter der Leitung von Prof. Dr. Klaus Lieb und Dipl.-Psychologin Jutta Stoffers-Winterling (Universitätsmedizin Mainz) erarbeitet. Die Leitliniengruppe repräsentiert Fachgesellschaften aus Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie. In den Erarbeitungsprozess waren außerdem Vertretungen der Gesundheitsökonomie und Pflege sowie Betroffene und Angehörige eingebunden. Alle an der Erstellung beteiligten 23 Organisationen sind in der Leitlinie ausgewiesen.
Als psychiatrisch-psychotherapeutische Fachgesellschaft, die sowohl die Förderung von Wissenschaft und Forschung als auch die Förderung des öffentlichen Gesundheitswesens und der öffentlichen Gesundheitspflege zur Aufgabe hat, gibt die DGPPN federführend alle psychiatrischen Leitlinien heraus. Darüber hinaus wirkt sie an Leitlinienprojekten anderer Fachdisziplinen mit.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Prof. Dr. Klaus Lieb (Klaus.Lieb@unimedizin-mainz.de)
Originalpublikation:
DGPPN e. V. (Hrsg.) für die Leitliniengruppe: S3-Leitlinie Borderline-Persönlichkeitsstörung.
Version 1.0 vom 14.11.2022 verfügbar unter: https://www.awmf.org/leitlinien.
Weitere Informationen:
https://www.dgppn.de/leitlinien-publikationen/leitlinien.html Leitlinienprojekte, an denen die DGPPN federführend oder maßgeblich beteiligt ist