Stammplatz für die einfachsten Vielzelligen Tiere
Stammplatz für die einfachsten Vielzelligen Tiere: Erstmals systematische Ordnung und Einordnung eines gesamten Tierstammes durchgeführt
Ein internationales Forschungsteam erstellte erstmals einen vollständigen Stammbaum für den Tierstamm der Plattentiere (Placozoa): Sie analysierten molekulare Merkmale und ganze Genome, um die Verwandtschaftsverhältnisse der Kleinstlebewesen zu entschlüsseln. Damit umgehen sie das Problem, dass Placozoa kaum äußere morphologische Merkmale besitzen.
Die Gruppe der einfachsten Vielzelligen Tiere der Welt hat nun einen Stammbaum. Eine Forschungsgruppe unter der Leitung der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover (TiHo), des American Museum of Natural History und des St. Francis College veröffentlichte ihre Systematik-Arbeit heute in der Fachzeitschrift Frontiers in Ecology and Evolution. „Die Studie kommt mehr als 100 Jahre nach der Entdeckung dieser winzigen und strukturell einfachsten aller Vielzelligen Tiere und ist das erste – und vermutlich einzige – Mal in diesem Jahrhundert, dass eine vollständige Taxonomie für einen ganzen Tierstamm erstellt wird“, sagt Professor Dr. Bernd Schierwater aus dem Institut für Tierökologie der TiHo. Er ist der Senior-Autor der Studie und führender Placozoen-Experte. Die Forschungsergebnisse basieren auf vorhandenen oder fehlenden Genen und nicht auf dem äußeren Erscheinungsbild, das traditionell zur Klassifizierung von Organismen verwendet wird. Placozoen sehen aus wie winzige, formveränderliche Scheiben und selbst Taxonomen finden mit leistungsstarken Mikroskopen fast keine Merkmale, um sie zu unterscheiden. Es war aber bekannt, dass es auf genetischer Ebene sehr unterschiedliche Abstammungslinien gibt. Schierwater sagt: „Nach jahrzehntelangen Diskussionen bekommt dieser spannende Stamm endlich die Aufmerksamkeit, die er verdient. Jetzt können wir ein klares Bild davon zeichnen, wie diese Tiere miteinander und mit anderen verwandt sind.“
Die Forschenden führten molekulare Analysen durch, für die sie Unterschiede in DNA-Sequenzen und anderen molekularen Strukturen heranzogen, um die Verwandtschaftsverhältnisse der Tiere zu bestimmen. Auf diese Weise erstellten sie eine grundlegende Taxonomie mit zwei neuen Klassen, vier neuen Ordnungen, drei neuen Familien, einer neuen Gattung und einer neuen Art. Die neue Art heißt Cladtertia collaboinventa. Der Artname betont, dass die Entdeckung nur durch die internationale Zusammenarbeit möglich war. Die Forschungen deuten darauf hin, dass die Plattentiere nahe mit den Nesseltieren (Quallen und Korallen) und den Bilateriern verwandt sind. Bilaterier sind vielzellige Tiere mit einem spiegelbildlichen Aufbau. Etwa 95 Prozent aller Tiere sind Bilaterier, so auch der Mensch.
Schierwater betont, dass diese Studie ein Anreiz dazu sein kann, die Systematik auch anderer Organismengruppen zu überdenken, die an der Oberfläche sehr ähnlich aussehen, wie Bakterien, Pilze und Protisten. „Wir schlagen vor, dass die Morphologie von Molekülen, wie zum Beispiel von Proteinen, die unverwechselbare Strukturen haben, nicht als etwas anderes als die traditionelle Morphologie betrachtet werden sollte. So könnte ein neues Zeitalter der Systematik beginnen”, so Schierwater.
Tierstämme sind die höchste Rangstufe in der hierarchischen Gliederung der Tiere. Sie bilden die Ebene unter den Reichen von Lebewesen: Tierreich, Pilzreich, Pflanzenreich. Die Unterteilung einzelner Tierarten nach Stämmen erfolgt aufgrund von Gemeinsamkeiten in der Stammesgeschichte, Abstammung und den letzten gemeinsamen Vorfahren. Innerhalb der Tierstämme existieren Unterstufen bzw. Unterränge, wie Überstamm, Stamm und Unterstamm.
Die Arbeit wurde zum Teil vom U.S. Department of Energy, Biological and Environmental Research Grant # DE-SC0014377 und dem Deutschen Akademischen Austauschprogramm unterstützt.
Die Originalpublikation
Johannes S. Neumann, Michael Tessler, Kai Kamm, Hans-Jürgen Osigus, Gil Eshel, Apurva Narechania, John Burns, Rob DeSalle und Bernd Schierwater
Frontiers in Ecology and Evolution
https://doi.org/10.3389/fevo.2022.1016357
https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fevo.2022.1016357/abstract
Michael Tessler, Spencer C. Galen, Rob DeSalle und Bernd Schierwater
Let’s end taxonomic blank slates with molecular morphology
Frontiers in Ecology and Evolution
https://doi.org/10.3389/fevo.2022.1016412
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Professor Dr. Bernd Schierwater
Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover
Institut für Tierökologie
Tel.: +49 511 953-8880
bernd.schierwater@ecolevol.de
Originalpublikation:
https://doi.org/10.3389/fevo.2022.1016357
https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fevo.2022.1016357/abstract
https://doi.org/10.3389/fevo.2022.1016412
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