„Die Psychotherapie verarmt in der Lehre“
Trotz neuem Psychotherapeutengesetz bleibt das Studium der Psychotherapie an staatlichen Universitäten fast ausschließlich auf die Verhaltenstherapie beschränkt. Die analytische Psychotherapie, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie sowie systemische Psychotherapie bleiben auf der Strecke. Dazu äußert sich Diplom-Psychologe Georg Schäfer, Psychoanalytiker in Bonn und stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT).
Sie sehen gravierende Probleme im Psychotherapie-Studium. Welche sind das?
Theoretisch werden an den Hochschulen alle vier wissenschaftlich anerkannten Verfahren unterrichtet, das sind die analytische Psychotherapie, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, Verhaltenstherapie sowie systemische Psychotherapie. Das gravierende Problem in der praktischen Lehre ist jedoch, dass fachkundige Hochschullehrer für analytische Psychotherapie, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und systemische Psychotherapie weitgehend fehlen. Alle Lehrstühle an den staatlichen Universitäten sind bis auf die Universität Kassel verhaltenstherapeutisch besetzt. Die Dozenten vermitteln die anderen Verfahren nur pro forma aus dem Lehrbuch. Das heißt, diese werden gar nicht profund und lebendig gelehrt. Die Studenten haben also gar nicht die Möglichkeit, die tiefenpsychologisch fundierte und analytische Psychotherapie in der Behandlungspraxis im Studium kennenzulernen und entsprechend wenig Interesse wird bei ihnen geweckt. Es findet sozusagen eine Monokultur der Verhaltenstherapie statt.
Die Lehre an den Hochschulen verarmt. Was bedeutet das für die Patientenversorgung?
Ja, genauso ist es! Die Psychotherapie verarmt in der Lehre. Diese in der Patientenversorgung benötigten Therapien werden weder von entsprechend fachkundigen Hochschullehrern gelehrt noch erforscht. Ungefähr 45 Prozent der Patienten nimmt aber eine analytische oder tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie wahr. Das heißt, die psychotherapeutische Versorgung fast der Hälfte der Patienten wird aktuell über diese Verfahren sichergestellt. Dazu kommt: Im Gegensatz zur Verhaltenstherapie ermöglichen gerade die analytische oder tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie den Patienten einen verstehenden Zugang zu ihren Schwierigkeiten und befähigen sie damit in den meisten Fällen, längerfristig und selbstständig mit ihrer Erkrankung umzugehen. Es tut sich schon jetzt ein Dilemma auf, denn viele Betroffene, die gerade eine derartige tiefgreifende Therapie benötigen und suchen, erhalten keinen Behandlungsplatz, weil aufgrund des einseitig ausgerichteten Studiums Psychotherapeuten mit entsprechenden Kenntnissen zunehmend fehlen.
Mit dem Psychotherapeutengesetz wurde 2020 eine neue Approbationsordnung eingeführt. Wird diese den verschiedenen Therapieverfahren gerecht?
Im neuen Psychotherapeutengesetz ist vieles gut angelegt, was die Notwendigkeit betrifft, an den Universitäten alle wissenschaftlich anerkannten psychotherapeutischen Verfahren und Methoden zu vermitteln. In der Gesetzesbegründung wird eindeutig gesagt, dass es nicht ausreicht, nur einen „Überblick“ über die unterschiedlichen Verfahren zu geben, sondern dass umsetzungsorientierte Kompetenzen vermittelt werden müssen, um Patienten umfassend psychotherapeutisch zu versorgen. Der klare Wortlaut ist sehr erfreulich. Allerdings gibt es im Gesetz und mehr noch in der Approbationsordnung entscheidende Webfehler: Es ist nicht festgelegt, dass die Hochschulen entsprechende Fachkräfte einstellen müssen. Deswegen fordert die Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT), dass die wissenschaftlich anerkannten psychotherapeutischen Verfahren von Hochschullehrern mit entsprechender Fachkunde zu unterrichten sind.
Werden in der psychotherapeutischen Prüfung alle anerkannten Psychotherapie-Verfahren geprüft?
Grundsätzlich ja, und das ist ein weiterer Knackpunkt in der Approbationsordnung. Umstritten ist der Paragraph 27 zum Inhalt der psychotherapeutischen Prüfung, da ist jetzt ein regelrechter Kampf entbrannt. Er besagt, dass sich die Prüfung „auf die im Studium vermittelten Inhalte“ erstrecken soll, die zur „eigenverantwortlichen und selbstständigen Berufsausübung“ notwendig sind. Gesetzlich vorgeschrieben ist, dass alle wissenschaftlich anerkannten Verfahren in grundlegenden Aspekten und praxisorientiert vermittelt werden sollen. Wenn diese nun auch geprüft werden sollen, müssen sie im Umkehrschluss natürlich auch fachkundig gelehrt werden. Das möchte die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs), die stark verhaltenstherapeutisch orientiert ist, ändern. Aber der Deutsche Psychotherapeutentag (DPT) – das ist die Bundesdelegiertenversammlung der Bundespsychotherapeutenkammer – hat sich in einer Resolution an das Bundesgesundheitsministerium vor Kurzem deutlich dafür ausgesprochen, den Verfahrens- und Praxisbezug im Studium und in der Approbationsprüfung zu erhalten und sicherzustellen. Das ist eine starke Stimme, bundesweit.
Warum kommt der tiefenpsychologisch fundierten und analytischen Psychotherapie im Vergleich zur Verhaltenstherapie eine große Bedeutung zu?
Diese psychotherapeutischen Verfahren, die in der Regel deutlich länger dauern als eine Verhaltenstherapie, wirken tiefgreifend und langfristig. Das hat eine Vielzahl von Studien gezeigt. So hat zum Beispiel die sogenannte Münchener Psychotherapiestudie belegt, dass Patienten mit einer depressiven Störung von Langzeitbehandlungen am meisten profitieren. Eine Psychoanalyse, die Jahre dauern kann, wirkt bei Betroffenen mit Stimmungs- und Angststörungen zwar später, dafür aber auf lange Sicht. Das hat eine finnische Untersuchung ergeben.
Angststörungen sind die häufigsten psychischen Erkrankungen. Sie sind – wie ein Großteil der psychischen Erkrankungen – von Persönlichkeitsanteilen begleitet, die die psychische Störung unterstützen. Das ist mit einem tiefenpsychologisch fundierten oder analytischen Verfahren besser zu behandeln. Denn es geht bei diesen Methoden darum, innere Beziehungen und/oder Ressourcen aufzubauen, die Zuversicht vermitteln und ermöglichen, von außen kommende Schwierigkeiten zu relativieren. Das geschieht weitgehend unbewusst. Die Patienten lernen, sich zu verstehen und sich schließlich ohne Therapeuten selbstständig zu helfen. Diese Verfahren führen zu inneren Veränderungen, die nur in einer Langzeittherapie möglich sind.
Das Interview führte Ute Wegner, Medizinjournalistin in Berlin
Hintergrund:
Reform der Psychotherapie-Ausbildung in Deutschland
Mit dem Inkrafttreten des neuen Psychotherapeutengesetzes zu Beginn des Wintersemesters 2020/21 ist die Ausbildung zum (Psychologischen) Psychotherapeuten bundesweit neu geregelt worden. Auf das fünf Jahre dauernde Psychotherapie-Studium folgt eine staatliche psychotherapeutische Prüfung sowie die Approbation, also die Zulassung zum Beruf. Um sich fachlich zu spezialisieren und die Therapiestunden über die gesetzliche Krankenkasse abrechnen zu können, schließt sich eine fünfjährige Weiterbildung in von den jeweiligen Landespsychotherapeutenkammern anerkannten Weiterbildungsstätten an. Hier arbeiten die Psychotherapeuten in Weiterbildung („PiW“) stationär oder ambulant und spezialisieren sich auf ein wissenschaftlich anerkanntes Psychotherapie-Verfahren. Fachärzte können ebenfalls die Weiterbildung in Psychotherapie nach den Vorgaben der jeweiligen Ärztekammern absolvieren und dann als „Ärztliche Psychotherapeuten“ arbeiten. Sie absolvieren eine Zusatzweiterbildung oder qualifizieren sich innerhalb ihres Fachgebietes: Für die Fachgebiete „(Kinder- und Jugend-) Psychiatrie und Psychotherapie“ sowie „Psychosomatische Medizin und Psychotherapie“ ist diese Weiterbildung vorgeschrieben.
Über die DGPT:
Die Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT) e.V. vertritt die Standes- und Berufsinteressen ihrer ca. 3.500 psychologischen und ärztlichen Mitglieder gegenüber der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen und gegenüber der Politik auf Bundesebene. Die DGPT versteht sich als wissenschaftliche Fachgesellschaft und Berufsverband zugleich. Sie stellt Grundanforderungen für die Weiterbildung an 60 staatlich anerkannten Aus- und Weiterbildungsinstituten auf. Die DGPT ist der Spitzenverband der psychoanalytischen Fachgesellschaften Deutsche Gesellschaft für Analytische Psychologie (DGAP), Deutsche Gesellschaft für Individualpsychologie e.V. (DGIP), Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft (DPG), Deutsche Psychoanalytische Vereinigung (DPV) sowie des Netzwerks Freier Institute (NFIP).
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Dipl.-Psych. Georg Schäfer, stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT),
Tel.: 0228 215607, E-Mail: georg.schaefer@dgpt.de