IAB-BiB/FReDA-BAMF-SOEP-Studie: Ukrainische Geflüchtete bringen gute Voraussetzungen für Teilhabe in Deutschland mit
Seit dem 24. Februar 2022 sind mehr als eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer nach Deutschland geflohen. Die Voraussetzungen für ihre Teilhabe an der deutschen Gesellschaft sind gut – das ist ein zentrales Ergebnis des Forschungsprojekts „Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland“. In einem Kurzbericht legen das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB), das Forschungszentrum des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF-FZ) und das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) erste repräsentative Erkenntnisse einer umfassenden Befragung dieser Geflüchteten-Gruppe vor.
17 Prozent der nach Deutschland geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainer sind hier bereits erwerbstätig, die Hälfte besucht einen Sprachkurs oder hat schon einen Kurs abgeschlossen, 60 Prozent leben in einer eigenen Wohnung. Die geflüchteten Kinder besuchen größtenteils deutsche Schulen und einige auch Kitas. Während ein beachtlicher Teil der ukrainischen Geflüchteten plant, nur zeitlich begrenzt in Deutschland zu bleiben, möchte ein Viertel gleichwohl dauerhaft hier leben. Diese Ergebnisse liefert die gemeinsame Studie der vier Projektpartner, der eine Befragung von 11.255 Geflüchteten aus der Ukraine vorausging.
Für die als Wiederholungsbefragung konzipierte Studie wurden in der ersten Welle ukrainische Staatsangehörige im Alter von 18 bis 70 Jahren befragt, die vom 24. Februar 2022 bis zum 8. Juni 2022 nach Deutschland zugezogen sind und bei den Einwohnermeldeämtern registriert waren. Für die Stichprobenziehung wurden zunächst über das Ausländerzentralregister 100 Gemeinden mit einem hohen Anteil von ukrainischen Geflüchteten gezogen. Diese wurden dann gebeten, Adressen der Zielpopulation zur Verfügung zu stellen, aus denen dann zufällig gezogen wurde. Die Befragung wurde vom Befragungsinstitut infas zwischen August und Oktober 2022 durchgeführt. Der Fragebogen war auf Ukrainisch und Russisch verfügbar und konnte sowohl online als auch auf Papier ausgefüllt werden. Finanziert wird die Studie vom Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI), vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sowie vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Ab Januar 2023 wird eine zweite Befragungswelle unter denselben Personen durchgeführt, um individuelle Veränderungen im Zeitverlauf messen zu können.
Für die Studie wurden die Geflüchteten zu Fluchtumständen, soziodemografischen Aspekten, ihrer Wohnsituation, ihrer schulischen, beruflichen und akademischen Qualifikation, Erwerbstätigkeit und Deutschkenntnissen, aber auch zu Themen wie Zufriedenheit und Sorgen, Familienkonstellation vor und nach der Flucht, Kinderbetreuung, vorhandenen sozialen Netzwerken sowie Beratungs- und Unterstützungsbedarfen befragt. Ein weiterer Fokus der Studie liegt auf der Frage nach den Zukunftsabsichten und eventuell geplantem Familiennachzug oder Rückkehrabsichten.
Die gewonnenen Daten liefern Erkenntnisse zu frühen Integrationsprozessen und damit verbundenen Bedarfen sowie zu den Auswirkungen von Flucht auf die Schutzsuchenden insbesondere mit Blick auf Frauen und getrennte Familien. Die Studie liefert belastbare Informationen zu Geflüchteten aus der Ukraine und ist damit auch wichtiger Bezugspunkt für politische Entscheidungen.
Soziale Beziehungen nach Deutschland sind wichtiger Zuzugsgrund
Als häufigstes Motiv für die Wahl Deutschlands als Zielland nannten die Geflüchteten, dass bereits Familienangehörige, Freundinnen und Freunde oder Bekannte hier leben (60 Prozent). 80 Prozent der erwachsenen Geflüchteten sind Frauen, von denen 48 Prozent mit minderjährigen Kindern in einem Haushalt leben. Nur etwas mehr als 20 Prozent der Frauen kamen mit einem Partner, während dies bei den Männern etwas mehr als 70 Prozent waren.
Rund drei Viertel haben eine Aufenthaltserlaubnis und ebenso viele leben in privaten Unterkünften
Mit der Aktivierung der sogenannten „Richtlinie zum vorübergehenden Schutz“ durch die EU wurde schnell Planungssicherheit geschaffen. 76 Prozent der ukrainischen Geflüchteten haben nach dieser Richtlinie eine zunächst bis März 2024 befristete Aufenthaltserlaubnis erhalten, 18 Prozent eine Fiktionsbescheinigung, die bis zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis ausgestellt wird. Mit der Aufenthaltserlaubnis sowie mit der Fiktionsbescheinigung ist es ukrainischen Geflüchteten möglich, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen oder Leistungen vom Jobcenter oder Sozialamt zu beziehen. Zudem wurden sie mit der Übernahme in das Grundsicherungssystem des Sozialgesetzbuch II im Bedarfsfall schnell in die Förderstruktur der Jobcenter integriert.
Knapp drei Viertel der Befragten leben zum Befragungszeitpunkt in privaten Wohnungen und Häusern, weitere 17 Prozent in Hotels und Pensionen und lediglich 9 Prozent in Gemeinschaftsunterkünften. Unter den Personen, die in privaten Unterkünften wohnen, leben 60 Prozent dort alleine oder mit ihren ebenfalls geflüchteten Familienangehörigen zusammen, gut ein Viertel bei bereits in Deutschland lebenden Familienangehörigen, Freundinnen und Freunden oder Bekannten.
Überdurchschnittliches Bildungsniveau und hohe Bereitschaft zum Deutschlernen
Überdurchschnittlich viele der Geflüchteten weisen ein hohes Bildungsniveau auf. So liegt das durchschnittliche Bildungsniveau der in Deutschland lebenden erwachsenen Geflüchteten deutlich höher als das der Bevölkerung in der Ukraine: 72 Prozent verfügen über Hochschulabschlüsse oder vergleichbare Abschlüsse (in der Ukraine insgesamt: 50 Prozent).
Nur wenige der Geflüchteten verfügen indes schon über gute deutsche Sprachkenntnisse: Acht von zehn Geflüchteten gaben in der Befragung an, dass sie keine oder eher schlechte Deutschkenntnisse besitzen. Zum Befragungszeitpunkt besuchten gleichwohl 51 Prozent der erwachsenen Geflüchteten einen Deutschkurs oder hatten diesen abgeschlossen. 36 Prozent haben dabei einen Integrationskurs oder ein anderes (Sprach-)Kursangebot des BAMF genutzt. „Das Interesse am Erlernen der deutschen Sprache ist hoch. Entsprechend erfreulich ist, dass schon so viele Geflüchtete einen Deutschkurs besuchen oder abgeschlossen haben“, sagt Dr. Nina Rother, Leiterin des Forschungsfeldes II "Integration und gesellschaftlicher Zusammenhalt" im Forschungszentrum des BAMF.
Kinder besuchen mehrheitlich deutsche Schulen und teilweise Kitas
Insbesondere Kinder, deren Eltern einen Sprachkurs besuchen oder einer Erwerbstätigkeit nachgehen, besuchen oft eine Kinderbetreuungseinrichtung. In Familien, in denen Geflüchtete mit einem Kind in Deutschland zusammenleben, haben 22 Prozent der Kinder unter drei Jahren und knapp 60 Prozent der Kinder im Kindergartenalter einen Kita-Platz.
In mehr als 90 Prozent der Familien mit Kindern im schulpflichtigen Alter besucht mindestens ein Kind eine Schule in Deutschland. In knapp einem Viertel dieser Familien wird auch der Online-Unterricht einer ukrainischen Schule genutzt. Der überwiegende Teil dieser – meist schon älteren – Kinder tut dies nur ergänzend zum Schulbesuch in Deutschland, knapp 3 Prozent nutzen ausschließlich ukrainischen Online-Unterricht. „Kinder und Jugendliche brauchen unsere Unterstützung besonders beim Bildungserwerb“, fordert Prof. Dr. C. Katharina Spieß, Direktorin des BiB. „Auch wenn sie später in die Ukraine zurückkehren, müssen wir sie im hier und heute begleiten und fördern.“
Quote der Erwerbstätigen steigt
„Vor dem Hintergrund der kurzen Aufenthaltsdauer sind die Erwerbstätigenquoten sehr hoch. Bemerkenswert ist auch, dass die meisten Geflüchteten qualifizierte Tätigkeiten in Deutschland ausüben,“ erklären Prof. Dr. Herbert Brücker, Leiter des Forschungsbereichs „Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung“ im IAB und Dr. Yuliya Kosyakova, Forscherin im Forschungsbereich „Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung“ im IAB.
Unter denjenigen Befragten mit einer Aufenthaltsdauer von sechs Monaten und länger haben bereits 18 Prozent einen Arbeitsplatz gefunden. Sechs Monate nach dem Zuzug sind die Erwerbstätigenquoten von Männern (24 Prozent) allerdings deutlich höher als die von Frauen (16 Prozent). Die Erwerbstätigenquoten hängen vom Bildungsniveau ab, bei Frauen spielt eine wichtige Rolle, ob Kinder in Betreuungseinrichtungen sind. Die Erwerbstätigkeitsquoten steigen auch, wenn sich die Geflüchteten ihren Wohnort frei auswählen konnten. 71 Prozent der erwerbstätigen Ukrainerinnen und Ukrainer üben in Deutschland qualifizierte oder hochqualifizierte Tätigkeiten aus.
Mehrheit fühlt sich willkommen, Unterstützung in vielen Lebensbereichen weiterhin notwendig
Wie geht es Ukrainerinnen und Ukrainern, die in Deutschland Schutz gefunden haben? 44 Prozent der Geflüchteten hat bereits regelmäßig Kontakt zu Deutschen. Ihren Gesundheitszustand bewerten die Befragten als ähnlich gut wie die deutsche Bevölkerung den ihren. Allerdings gibt es Hinweise auf psychische Belastungen der geflüchteten Kinder. Auch die sehr viel geringere Lebenszufriedenheit im Vergleich zur deutschen Bevölkerung weist darauf hin, dass der Krieg die ukrainischen Geflüchteten stark belastet.
Die überwiegende Mehrheit der Befragten (76 Prozent) fühlte sich bei ihrer Ankunft „voll und ganz“ oder „überwiegend“ willkommen in Deutschland. Die Bleibeabsichten sind dagegen sehr unterschiedlich: 34 Prozent wollen nach Kriegsende Deutschland verlassen, 26 Prozent für immer und 13 Prozent für mehrere Jahre oder kürzer in Deutschland bleiben, 27 Prozent können noch keine Aussage treffen.
„Viele Geflüchteten sind sich derzeit noch unsicher, ob sie dauerhaft in Deutschland leben möchten“, sagt Prof. Dr. Sabine Zinn, Vize-Direktorin des SOEP. „Wir gehen jedoch davon aus, dass die Zahl derer, die bleiben wollen, ansteigt, wenn der Krieg noch lange andauert.“
Die große Mehrheit der ukrainischen Geflüchteten sieht weiter einen hohen Unterstützungsbedarf durch den Staat und andere Akteure. Am häufigsten nennen die Befragten nötige Unterstützung beim Erlernen der deutschen Sprache, bei der Arbeitssuche, bei der Gesundheitsversorgung sowie der Wohnungssuche. Sprachkursangebote und Angebote zur Arbeitsvermittlung werden bereits breit genutzt. Die Daten weisen darauf hin, dass diese und weitere Angebote von zentraler Bedeutung für Integration und Teilhabe sind und weiter ausgebaut werden sollten.
Insgesamt bewerten die Forscherinnen und Forscher von IAB, BiB, BAMF-FZ und SOEP die ersten Erkenntnisse zur Teilhabe angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer als positiv. Das hohe Bildungsniveau, aber auch die rechtlichen und institutionellen Bedingungen in Deutschland und der schnelle Ausbau von Unterstützungs- und Integrationsangeboten erleichtern die Lebens- und Arbeitssituation für ukrainische Geflüchtete. Nun gilt es, diese guten Voraussetzungen in der Praxis so umzusetzen, dass sie bestmöglich für die Teilhabe an Arbeitsmarkt, Bildungs- und Gesundheitssystem und Gesellschaft genutzt werden können. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die große Gruppe an Ukrainerinnen und Ukrainern, die länger oder dauerhaft in Deutschland bleiben möchten. Bei der Weiterentwicklung und dem Ausbau integrationsfördernder Angebote muss aber gleichzeitig auch der hohen Ungewissheit und Heterogenität der Bleibeabsichten Rechnung getragen werden.
Ausblick zur Weiterführung der Studie
Ausführliche Ergebnisse der aktuellen Studie sollen im Februar 2023 in Form eines Forschungsberichts veröffentlicht werden.
Die Studie knüpft an die seit 2016 durchgeführte „IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten“ sowie das auch am BiB angesiedelte Familiendemografische Panel FReDA an. Es ist geplant, die Teilnehmenden nach der zweiten Befragungswelle innerhalb dieser bestehenden sozialwissenschaftlichen Dateninfrastrukturen weiter zu befragen. Dies bietet die Möglichkeit, langfristige Erkenntnisse über Geflüchtete aus der Ukraine zu gewinnen – sowohl zu Integrationserfahrungen in Deutschland als auch über eine mögliche Rückwanderung ins Heimatland.
Interessierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden die Befragungsdaten voraussichtlich ab dem Jahr 2024 über die Forschungsdatenzentren des SOEP (SOEP-FDZ) und des IAB sowie über FReDA abrufen können.
Weitere Informationen und den Kurzbericht zum Download finden Sie auf den Projektwebseiten der beteiligten Projektpartner:
BAMF: https://www.bamf.de/SharedDocs/ProjekteReportagen/DE/Forschung/Integration/projekt-ukr.html
BIB: https://www.bib.bund.de/ukraine-projekt
IAB: https://www.iab.de/ukr-projekt
SOEP: https://www.diw.de/de/diw_01.c.850107.de/projekte/iab-bib/freda-bamf-soep-befragung____gefluechtete_aus_der_ukraine_in_deutschland.html
Weiterführende Links:
IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten (ab 2016):
https://www.diw.de/de/diw_01.c.603160.de/integrierte_studien.html#c_626377
Familiendemografische Panel FreDA:
https://www.freda-panel.de/FReDA/DE/Startseite.html
Ansprechpartner für Medienanfragen:
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)
Jochen Hövekenmeier
Telefon: +49 911 943 177 99
E-Mail: pressestelle@bamf.bund.de
Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BIB)
Dr. Christian Fiedler
Telefon: +49 611 75 4511
E-Mail: Christian.fiedler@bib.bund.de
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)
Marie-Christine Nedoma
Telefon: +49 911 179 1946
E-Mail: presse@iab.de
Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin)
Monika Wimmer
Telefon: +49 30 897 89 251
E-Mail: mwimmer@diw.de oder presse@diw.de
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Forschungszentrum des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF-FZ)
Wenke Niehues
Telefon: +49 911 943 24 711
E-Mail: wenke.niehues@bamf.bund.de
Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BIB)
Dr. Andreas Ette
Telefon: +49 611 75 4360
E-Mail: andreas.ette@bib.bund.de
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)
Dr. Yuliya Kosyakova
Telefon: +49 911 179 3643
E-Mail: Yuliya.Kosyakova@iab.de
Sozio-oekonomisches Panel (SOEP)
Dr. Markus Grabka
Telefon: +49 30 89789 339
E-Mail: mgrabka@diw.de
Originalpublikation:
Stockurn:nbn:de:bib-var-2022-064
DOI: 10.12765/bro-2022-04