„Es wird schwierig werden, die Versorgungssicherheit und -qualität aufrechtzuerhalten“
TransMIT Projektbereich für Versorgungsforschung veröffentlicht erste Ergebnisse der Gießener Sterbestudie 2022
In der Zeit von September bis Dezember 2022 wurde deutschlandweit die 3. Gießener Studie zu den medizinisch-pflegerischen und psycho-sozialen Bedingungen des Sterbens durchgeführt. In die Auswertung der im Online-Verfahren durchgeführten Befragung gelangen 855 Mitarbeiter/-innen der Gesundheitsversorgung aus allen Bundesländern. Diese waren zumeist als Pflegende oder Ärzte im Krankenhaus (64%), stationären Pflegeeinrichtungen (22%), häuslich-ambulanter Versorgung (10%) und Hospizen (4%) beschäftigt. Erstmals beteiligten sich auch Mitarbeiter/-innen (n=74) aus Österreich.
Um die Versorgungssituation zu erfassen, wurde erneut ein 1988 entwickelter Fragebogen verwendet, der insgesamt 40 Fragen zu personellen, materiellen und räumlichen Ressourcen, Symptomkontrolle, Aufklärung, Arbeitsklima, Angehörigenintegration, Kooperation mit Versorgungspartnern und dem Umgang mit den Verstorbenen umfasst. Zusätzlich wurden noch acht Fragen zu den Auswirkungen der Coronapandemie und zur Zukunft der Sterbeversorgung eingefügt.
Als ein zentrales Ergebnis zeigte sich, dass 60% der Befragten berichten, die Versorgungsqualität habe sich insgesamt aufgrund der Coronapandemie z. T. erheblich verschlechtert. Während die Symptomkontrolle i. d. R. weiterhin aufrechterhalten werden konnte, seien die sozialen, aber auch fachlichen Zuwendungen durch die betroffenen Helfer (Ärzte, Pflegende, andere Therapeuten) z. T. massiv zurückgeführt worden. 70% gaben an, dass sich die Einbeziehung von Angehörigen am problematischsten entwickelt habe, da diese kaum noch stattfand. Die von der überwiegenden Mehrzahl der Mitarbeiter erlebte Belastung aufgrund der Pandemie, drückt sich auch in Inhalt und Ausmaß der Nutzung eines im Fragebogen vorgesehenen Kommentarfeldes (Wie wird sich die Versorgung Sterbender in den nächsten Jahren entwickeln?) aus: 63% der Befragten machte hiervon Gebrauch und dokumentierten auch ihr großes Aussprachebedürfnis.
Die aktuelle Versorgungssituation in den Pflegeeinrichtungen und der Vergleich mit der Situation vor 8 Jahren zeigt, dass sowohl Angehörige als auch Ehrenamtliche systematischer einbezogen werden. Auch die Information, Aufklärung und Prognosekommunikation werden, wenn auch nur geringfügig besser als früher vollzogen. Zugleich beklagt sich eine etwas größere Gruppe (›60%) als schon 2014 über beständig unzureichende zeitliche und personelle Ressourcen.
Auch in den Krankenhäusern fanden Entwicklungen statt: Während die Art der Trägerschaft der Krankenhäuser keinen oder einen nur sehr schwachen Einfluss besitzt, ist auffällig, wie sehr sich die erreichten Qualitäten zwischen den Stationstypen bzw. deren Versorgungsauftrag unterscheiden. Es sind die Palliativstationen, auf welchen – mit z. T. sehr deutlichem Abstand – die besten Voraussetzungen für die Sterbenden, deren Angehörigen, aber auch für die Mitarbeiter (Arbeitsklima, Ressourcen) bestehen. Demgegenüber sind es die Allgemeinstationen, welche die schwierigsten Bedingungen und erreichten Versorgungsergebnisse aufzeigen. Dies reicht von der vollzogenen Symptomkontrolle (z. B. Schmerztherapie), der Wahrscheinlichkeit allein zu versterben, bis hin zum Vorhandensein notwendiger Pflegehilfsmittel. Als problematisch bzw. klärungsbedürftig ist auch der Befund zu bewerten, dass 65% (2013: 43%) der Befragten angaben, dass oftmals bzw. immer unnötig lebensverlängernde Maßnahmen ergriffen würden.
Der „Ländervergleich“ mit Österreich zeigt nur geringe Unterschiede, auch in der Bewertung der Auswirkungen der Coronapandemie. Auffällig allein, dass sich die Befragten aus Österreich durch ergänzende Fortbildungen deutlich besser auf die Betreuung Sterbender vorbereitet sehen und dass sie öfter bzw. stärker davon ausgehen, dass an ihrem Arbeitsplatz ein menschenwürdiges Sterben möglich sei.
Die Ergebnisgesamtschau zeigt, dass es fachlich und ethisch weiterhin geboten ist, in den Krankenhäusern palliative Versorgungsbereiche aufzubauen, um diese dann gezielt als Kompetenzträger – etwa über palliative Konsildienste – für das gesamte Krankenhaus nutzbar zu machen.
Der ermittelte positive Trend zu mehr Information und Abstimmung in den stationären Pflegeeinrichtungen könnte als eine Auswirkung des Ende 2015 verabschiedeten Gesetzes zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung interpretiert werden, in welchem die Einrichtungen verpflichtet werden, eine bestmögliche, vorausschauende Planung für das Lebensende der Bewohner/-innen durchzuführen.
Problematisch und weiter klärungsbedürftig wiegt der Befund, dass über die Hälfte (56%) derer, welche die Frage zur Zukunft der Sterbebetreuung aufgriffen (63%), eine ungünstige Vorhersage wählten: Personalnot, unzureichende Qualifikation, Ökonomisierung und verweigerte gesellschaftliche Verantwortlichkeit (Verleugnung der Endlichkeit) werden hier u. a. als Begründungen eingeführt. Weitere 24% sehen bzw. erhoffen einen Status-Quo und nur ungefähr 20% erwarten eine bessere Zukunft.
„Die genaueren Befunde, zur Situation in den unterschiedlichen Einrichtungstypen, wie sich diese in den zurückliegenden 10 bzw. für die Krankenhäuser 30 Jahren entwickelt haben und welche Einflussfaktoren hier auf der Grundlage unserer Gießener Studien identifiziert werden können, werden wir in verschiedenen Veröffentlichungen im Verlauf des kommenden Jahres 2023 berichten. Ziel muss es sein die erreichten Versorgungsqualitäten nicht nur zu erhalten, sondern weiterhin zu verbessern. Dabei besteht vor allem auch in der Versorgungssystematik, d. h. der abgestimmten Zusammenarbeit der Behandler untereinander und mit den betroffenen Patienten bzw. deren Familien reichlich Luft nach oben.“
Die genaueren empirischen Studienergebnisse werden im Verlauf des Jahres zur Veröffentlichung gebracht. Hierbei sollen u. a. auch der Beschreibung der Situation der Betreuung von Sterbenden auf Intensivstation, in der palliativen Versorgung, in den Pflegeeinrichtungen und der ambulanten Versorgung ausgewertet und berichtet werden.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Prof. Dr. Wolfgang George
Wissenschaftlicher Leiter
TransMIT-Projektbereich für Versorgungsforschung und Beratung
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