Goodbye deutsche Krebsforschung
BioNTechs Verlegung der Krebsforschung nach Großbritannien offenbart Defizite des Forschungs- und Innovationsstandorts Deutschland – Finanzielle Förderung ist nicht das Problem – Reallabore als Testumfeld für bessere Rahmenbedingungen stärker nutzen - Geplante Datenstrategie sollte klare und einfache Regelungen zur Datennutzung schaffen - Reformdruck auf Rahmenbedingungen für Forschung und Innovation steigt
Berlin, 15. Februar 2023 — Die Expertenkommission Forschung und Innovation hat ihr aktuelles Jahresgutachten heute an Bundeskanzler Olaf Scholz übergeben. Die Übergabe steht im Schatten der jüngst bekannt gewordenen BioNTech-Entscheidung, seine Krebsforschung nach Großbritannien zu verlagern.
Die Expertenkommission sieht in dieser aktuellen Entwicklung ein klares Indiz für die Dringlichkeit ihrer Empfehlungen. „Die Rahmenbedingungen für Forschung und Innovation sind in Teilen nicht mehr zeitgemäß. Der Fall BioNTech legt bei uns bestehende Defizite auf schmerzhafte Weise offen. Wenn Deutschland als Standort für zukunftsweisende Schlüsseltechnologien in der ersten Liga spielen will, muss hier schnell und grundlegend nachgebessert werden“, mahnt der Vorsitzende der Expertenkommission, Prof. Dr. Uwe Cantner von der Universität Jena.
Fehlende Fördermittel nicht das Problem
Dabei geht es gar nicht so sehr ums Geld, wie der Fall BioNTech zeigt. „Fehlende Fördermittel sind nicht das Problem“, weiß Uwe Cantner zu berichten. Auch an medizinischen Infrastrukturen und Kompetenzen besteht in Deutschland kein Mangel. „Es sind vor allem die defizitäre Digitalisierung sowie schleppende administrative Verfahren in Kombination mit immer kleinteiligeren Regulierungsvorgaben, die die Gesundheitsforschung in Deutschland behindern und dafür sorgen, dass innovative Verfahren nicht oder nicht schnell genug in die Anwendung kommen.“ So ist die Durchführung klinischer Studien in Deutschland mit einem deutlich höheren administrativen Aufwand verbunden als in anderen europäischen Ländern. Hinzu kommt, dass die für Forschung so wichtige Datenerhebung und -nutzung durch die schleppende Digitalisierung sowie komplexe Datenschutzvorgaben ausgebremst wird. BioNTech hat selbst auf die deutlich forschungsfreundlicheren Rahmenbedingungen in Großbritannien hingewiesen.
„Ich befürchte“, so Uwe Cantner, „dass BioNTech nicht das letzte Unternehmen sein wird, das seine Forschungsaktivitäten ins Ausland verlagert“. Und diese Befürchtung gilt nicht nur für den Pharmabereich. Auch andere innovative Branchen leiden unter den bestehenden Regulierungsvorgaben in Deutschland. „Um regulatorische Rahmenbedingungen zügig und zielgenau anzupassen, müssen wir viel stärker als bisher auf Reallabore zurückgreifen“, empfiehlt Uwe Cantner. „Mit Reallaboren können wir testen, wie der Verzicht auf bestimmte Regelungen auf Inventions- und Innovationstätigkeiten wirkt. Leider wird diese Möglichkeit bisher noch viel zu selten genutzt.“
Die Bundesregierung sollte zudem mit der geplanten nationalen Datenstrategie klare und einfache Regelungen schaffen, um eine umfassende und innovationsfreundliche Nutzung von Forschungsdaten zu ermöglichen. „Ganz zentral ist dabei eine harmonisierte Auslegung der Datenschutzregelungen über alle Bundesländer hinweg“, betont die stellvertretende Kommissionsvorsitzende, Prof. Dr. Irene Bertschek vom ZEW in Mannheim. „Noch haben wir hier einen Flickenteppich. Das verursacht hohe Kosten, kann zur Abwanderung von Forschung ins Ausland beitragen und verhindert im schlimmsten Falle Innovationen.“
Rahmenbedingungen für Forschung und Innovation unter Reformdruck
Der Druck, Rahmenbedingungen für Forschung und Innovation zu reformieren, steigt kontinuierlich. „Die Ära ständig steigender Budgets für Forschung und Innovation ist angesichts immer neuer Krisen wohl endgültig vorbei. Lange Zeit haben wir uns in Deutschland erlaubt, Reformbedarfe im Innovationssystem mittels Ausgleichszahlungen und Schaffung von teuren Parallelstrukturen auszusitzen. Dieses Festhalten an tradierten Strukturen und Industrien führt dazu, dass neue Technologien und innovative Unternehmen ausgebremst werden. Wenn wir ein attraktiver Forschungsstandort bleiben wollen, müssen wir davon wegkommen“, mahnt Irene Bertschek. „Der Fall BioNTech macht uns deutlich, dass die Zeit drängt.“
Kontakt:
Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI)
Dr. Helge Dauchert
Leiter der Geschäftsstelle
T 030 322 982 562
helge.dauchert@e-fi.de
Die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) mit Sitz in Berlin leistet seit 2008 wissenschaftliche Politikberatung für die Bundesregierung und legt jährlich ein Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands vor. Wesentliche Aufgabe der EFI ist es dabei, die Stärken und Schwächen des deutschen Innovationssystems im internationalen und zeitlichen Vergleich zu analysieren und die Perspektiven des Forschungs- und Innovationsstandorts Deutschland zu bewerten. Auf dieser Basis entwickelt die EFI Vorschläge für die nationale Forschungs- und Innovationspolitik. www.e-fi.de