Österreich hat Aufholbedarf bei Prävention und Versorgung von psychischen Erkrankungen während der Schwangerschaft
Das Austrian Institute for HTA (AIHTA) hat internationale Versorgungsmodelle und –pfade sowie die Situation in Österreich in Bezug auf peripartale psychische Gesundheit analysiert. Die beiden erschienenen Berichte sind Teil eines vom FWF finanzierten Projektes zur Verbesserung der peripartalen psychischen Gesundheit in Tirol, das von der Medizinischen Universität Innsbruck geleitet wird. „Der internationale Vergleich zeigte, wie wichtig ein integriertes Gesamtkonzept für Prävention, Früherkennung und Behandlung ist. Die österreichische Angebotsstruktur weicht allerdings erheblich von den internationalen Empfehlungen ab", betont Ingrid Zechmeister-Koss, stellvertretende Leiterin des AIHTA.
Psychische Erkrankungen von Eltern sind eine häufige und schwerwiegende Komplikation in der peripartalen Phase, also der Zeit während der Schwangerschaft und im ersten Jahr nach der Geburt. So leiden in diesem Zeitraum bis zu jede fünfte Frau und jeder zehnte Mann unter psychischen Problemen wie Depressionen oder Angststörungen. Trotz der unmittelbaren und langfristigen potenziell schwerwiegenden Auswirkungen auf Mutter, Vater und insbesondere das Kind, die von Verhaltensproblemen bis zu einem erhöhten Suizidrisiko reichen und mit großen Belastungen im Gesundheits-, Sozial- und Bildungssystem einhergehen, gibt es in Österreich bisher weder eine nationale Strategie noch ein nationales Versorgungsmodell für peripartale psychische Gesundheit. Die vorhandenen Angebote zeigen große regionale Unterschiede, die häufig unkoordiniert und nicht bundesländerübergreifend verfügbar sind.
Das AIHTA hat nun federführend im Zuge zweier Forschungsarbeiten analysiert wie andere ausgewählte Länder mit diesem Bedarf nach Versorgungsstrukturen umgehen und die Charakteristika und Kapazitäten der österreichischen Angebote untersucht. Für den ersten Bericht wurden sechs Dokumente aus UK, Irland, Kanada und Australien, die von multiprofessionellen Arbeitsgruppen und Expert*innen sowie Betroffenen erstellt wurden, analysiert. Alle Dokumente enthielten Informationen zu verschiedenen Aspekten der Versorgung, einschließlich Primärprävention, Früherkennung, Diagnostik, Überweisung und Behandlung. „Ein zentrales Ergebnis ist, dass für integrierte Versorgungsmodelle, in denen verschiedene Leistungserbringer und Berufsgruppen über den ganzen Behandlungs- und Betreuungsprozess kontinuierlich und strukturiert zusammenarbeiten, klar definierte Pfade und abgestufte Betreuungskonzepte für die Organisation und Bereitstellung von Leistungen der peripartalen psychischen Versorgung notwendig sind“, erklärt Inanna Reinsperger, Public-Health-Forscherin am AIHTA.
Prävention und Screening
Im Rahmen der Primärprävention sollten werdende Eltern über psychische Gesundheit im Allgemeinen und mögliche psychische Probleme während der Schwangerschaft und nach der Geburt aufgeklärt werden. Für Frauen mit bereits bestehenden oder früheren psychischen Problemen oder einem erhöhten Risiko für psychische Erkrankungen wird auch eine Beratung vor Eintritt der Schwangerschaft empfohlen. In allen Dokumenten wird die frühzeitige Identifizierung von Menschen mit peripartalen psychischen Erkrankungen als essenziell ausgewiesen. „Ein Screening von Müttern auf diese Erkrankungen wird einhellig empfohlen, idealerweise zu mehreren Zeitpunkten, zum Beispiel zu Beginn und später in der Schwangerschaft sowie 6-12 Wochen nach der Geburt bzw. mindestens einmal im ersten Jahr nach der Geburt.“ betont Reinsperger.
Die Situation in Österreich weicht von dieser Empfehlung jedoch deutlich ab: „Im „Mutter-Kind-Pass“, dem nationalen Screening – Programm für die Schwangerschaft und die ersten fünf Lebensjahre des Kindes, ist ein routinemäßiges Screening auf psychische Probleme bisher nicht vorgesehen, obwohl Komponenten zur psychischen Gesundheit zukünftig integriert werden sollen. Für schwerwiegende, insbesondere akute peripartale psychische Probleme existieren generell wenig spezialisierte Angebote.“, erläutert Zechmeister-Koss. Nationale Programme wie die „Frühen Hilfen“ erheben zwar psychische Belastungen und stellen in Wien und Tirol psychotherapeutische Gruppenangebote von begrenzter Kapazität zur Verfügung, sind aber nicht speziell auf psychische Probleme ausgerichtet.
Fehlende Forschung in Österreich
Neben einem evidenzbasierten und bedürfnisorientierten Zugang, sollte ein idealtypisches Modell Maßnahmen der Primärprävention, Beratung und Früherkennung beinhalten, klare Überweisungswege aufweisen und die psychische Gesundheit beider Elternteile sowie des Kindes berücksichtigen. Die Bestandsaufnahme zum vorhandenen Präventions-, Früherkennungs- und Versorgungsangebot in Österreich zeigt allerdings, dass Inhalt und Kapazität dieser Angebote höchst unterschiedlich sind und keine nationalen Qualitätsstandards und Leitlinien zu Versorgungspfaden existieren. Die stationären Kapazitäten für Mutter-Kind-Betten liegen überdies deutlich unter den international empfohlenen Bedarfszahlen und fehlen in einigen Bundesländern gänzlich.
„Bei manchen Angeboten in Österreich ist unklar, inwieweit deren Nutzen belegt ist. Auch über deren Kosten-Effektivität oder die Auswirkung struktureller Determinanten für die psychische Gesundheit, wie etwa familien- und reproduktionspolitische Maßnahmen, gibt es so gut wie kein Wissen. Im Gegensatz zu anderen Ländern fehlt es dazu in Österreich an Forschung. Die Unterstützung von Eltern mit peripartalen psychischen Problemen hat trotz ihrer Häufigkeit eine niedrige gesundheits- und sozialpolitische Priorität“, sagt Projektleiterin Jean Paul von der Medizinischen Universität Innsbruck.
Den Expertinnen zufolge wären letztlich eine stärkere Koordination und Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Sektoren – wie Gesundheits- und Sozialsektor – österreichweit für die Implementierung und Umsetzung von peripartalen psychischen Versorgungsmodellen unerlässlich. Dazu sind eine nationale Strategie und die Definition von Verantwortlichkeiten notwendig. Außerdem empfiehlt das AIHTA eine nationale Leitlinie für die Definition von Versorgungspfaden, etwa nachdem ein psychisches Problem erkannt wird. Zudem sollten Daten des nationalen Geburtsregisters mit jenen zur psychischen Gesundheit erweitert werden und auch der Forschung zur Verfügung stehen. „Auf Basis dieser Erkenntnisse sollen nun mit Fachkräften aus allen involvierten Berufen wie etwa Psychiater*innen, Hebammen, Gynäkolog*innen, Pädiater*innen, Psycholog*innen und Vertreter*innen der Verwaltung gemeinsam mit betroffenen Müttern und Vätern in Tirol Verbesserungsansätze priorisiert werden und diese dann wissenschaftlich begleitet umgesetzt werden“, resümieren die Studienautorinnen.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Kontakt für inhaltliche Fragen und Interviews:
Med Uni Innsbruck
Dr. Jean Paul, PhD, BASc, BSc (Projektleitung)
T +43 / 676 5800490
E-Mail: Jean.Paul@lbg.ac.at
Austrian Institute for Health Technology Assessment
Ingrid Zechmeister-Koss, Dr. rer. soc. oec., MA
T +43 / 1 / 2368119-19
E-Mail: ingrid.zechmeister@aihta.at
Kontakt für Fragen zur Veröffentlichung:
Mag. Günther Brandstetter
E-Mail: guenther.brandstetter@aihta.at
Tel.: 0660/3126348
Ozren Sehic, M.A
ozren.sehic@aihta.at
Originalpublikation:
Reinsperger, I. und Paul, J. (2022): Modelle zur Prävention und Versorgung peripartaler psychischer Erkrankungen. HTA-Projektbericht 148.Wien: HTA Austria – Austrian Institute for Health Technology Assessment GmbH. https://eprints.aihta.at/1420/
Zechmeister-Koss, I. (2023) Prävention und Versorgung peripartaler psychischer Erkrankungen in Österreich: Eine Bestandsaufnahme bestehender Präventions-, Früherkennungs- und Versorgungsstrukturen mit spezifischem Fokus auf Tirol. HTA-Projektbericht 151. Wien: HTA Austria – Austrian Institute for Health Technology Assessment GmbH. https://eprints.aihta.at/1437/