Ernst-Ludwig Winnacker: Die Kooperation mit China ist unverzichtbar
Forschung in der Zeitenwende: Der langjährige Wissenschaftsmanager Ernst-Ludwig Winnacker rät im Interview mit der GDNÄ zu behutsamer Kontinuität im Austausch mit China und zeigt neue Potenziale in aller Welt auf.
„Wissenschaft kennt keine Grenzen und sie gedeiht selten in intellektueller Isolation“, sagt der Biochemiker Ernst-Ludwig Winnacker im Interview mit der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (GDNÄ). Weltweit vernetzt zu arbeiten, sei heute unverzichtbar, betont Winnacker, der die Internationalisierung der Wissenschaft jahrzehntelang vorantrieb – ob als Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) oder als erster Generalsekretär des European Research Council, kurz ERC.
Leider sei das goldene Zeitalter globaler Wissenschaftsbeziehungen vorbei, bedauert der erfahrene Wissenschaftsmanager. Und das nicht erst seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine. So habe die Schweiz im Jahre 2014 Einwanderung und Personenfreizügigkeit begrenzt und damit ihre bilateralen Verträge mit der EU gebrochen. 2020 folgte der Brexit, der das Vereinigte Königreich für den ERC zum nichtassoziierten Drittland machte. Winnacker weist darauf hin, dass die Zahl britischer und schweizerischer Staatsangehöriger in EU-Programmen in den vergangenen Jahren drastisch gesunken ist. Das sei ein herber Verlust für die europäische Forschung, denn sowohl die Schweiz als auch Großbritannien verfügten über hervorragende Universitäten und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen.
Als DFG-Präsident eröffnete Ernst-Ludwig Winnacker im Jahr 2000 zusammen mit der chinesischen Partnerorganisation das Chinesisch-Deutsche-Wissenschaftszentrum in Peking. Das Zentrum gibt es bis heute. Inzwischen sei die Zusammenarbeit mit China jedoch viel schwieriger als damals, berichtet Winnacker und fügt hinzu: „Seinerzeit galt China als Entwicklungsland. Heute ist es zum strategischen Wettbewerber geworden. Dennoch: Das Chinesisch-Deutsche Zentrum ist eine Erfolgsgeschichte und ich bin stolz darauf. Das Zentrum hat uns intensive wissenschaftliche Kontakte und Kooperationen in diesem riesigen Land gebracht, das nach seiner Einwohnerzahl rund zehn Mal größer als Russland ist und enorme wissenschaftliche Potenziale birgt.“ Erfreulich sei etwa die Vielzahl gemeinsamer Publikationen, die im Laufe der Jahre entstanden seien.
Den Aufruf von Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger zu mehr Achtsamkeit in der Wissenschaftskooperation mit China unterstützt Winnacker bedingt. Zwar ließen sich manche Fragen, etwa im IT- und KI-Bereich, durchaus auf nationaler Ebene lösen. Andere Themen, beispielsweise im Bereich Klimaschutz oder in der Meeresforschung, bedürften intensiver, internationaler Zusammenarbeit – auch mit China. Weil die Ergebnisse vieler dieser Projekte finanzielle Konsequenzen haben oder von militärischem Nutzen sein können, gelte es genau zu prüfen, wer mit wem wo zusammenarbeitet und wie die Ergebnisse kommuniziert werden. Winnacker sagt: „Einfach ist die Situation sicherlich nicht. So spielt bei uns die grundgesetzlich garantierte Forschungsfreiheit eine zentrale Rolle, in China ist das nicht der Fall. Und wenn Staatschef Xi Jinping dieser Tage die Fusion von ziviler und militärischer Forschung fordert, dann muss uns das nachdenklich stimmen.“ Wegweisend seien die Empfehlungen der Leopoldina und DFG zum Thema Dual Use.
Bei der Sicherheitsbewertung von Master- und Doktorarbeiten von chinesischen Studierenden schlägt Winnacker vor, die Arbeiten einzeln auf ihren gegebenenfalls sensiblen Charakter zu überprüfen. Die Verantwortung dafür sollte in der Hand der Projektleitungen oder der Prüfungskommissionen liegen.
Dass die traditionsreichen deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen ausgesetzt sind, solange Russland Krieg führt, findet Winnacker richtig und angemessen. Selbst private wissenschaftliche Kontakte hält er derzeit für kaum verantwortbar, denn sie könnten dortige Forscherinnen und Forscher gefährden. Die großen internationalen Programme in Raumfahrt, Umwelt- und Energieforschung sollten jedoch weitergehen, sofern die Sanktionen das erlauben.
Auf die Frage, welchen Weltregionen sich Deutschland in der Wissenschaft künftig stärker zuwenden sollte, nennt Winnacker Japan, Südkorea, Taiwan, Singapur, Thailand, Indien, Brasilien, Argentinien und Chile.
Zur Person
Ernst-Ludwig Winnacker kam 1941 in Frankfurt/Main zur Welt. Er studierte Chemie an der ETH Zürich und wurde dort 1968 promoviert. Es folgten Postdoktorate an der University of California, Berkeley, von 1968 bis 1970 und am Karolinska-Institut in Stockholm (1970–1972). 1980 wurde Winnacker zum Professor für Biochemie an der Ludwig-Maximilians-Universität München ernannt; 1984 übernahm er die die Leitung des Laboratoriums für Molekulare Biologie – Genzentrum der Universität München. Von 1987 bis 1993 war Ernst-Ludwig Winnacker Vizepräsident und von 1998 bis 2006 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Während dieser Zeit, von 1999 bis 2000, war er Präsident der GDNÄ. Von 2007 bis 2009 fungierte er als Erster Generalsekretär des European Research Council in Brüssel und von 2009 bis 2015 als Generalsekretär des Human Frontier Science Program in Straßburg. Er ist Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Akademien, darunter der Leopoldina und der National Academy of Medicine der USA und hat zahlreiche Ehrungen erhalten.
Über die GDNÄ
Die Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte e. V. (GDNÄ) ist die einzige wissenschaftliche Gesellschaft in Deutschland, die über naturwissenschaftliche, technische und medizinische Fachdisziplinen hinweg allen Interessierten für eine Mitgliedschaft offensteht, auch Schülern, Studenten und naturwissenschaftlichen Laien. Insofern ergänzt und bereichert die GDNÄ die von Akademien und Fachgesellschaften geprägte Landschaft wissenschaftlicher Gesellschaften in Deutschland. Die GDNÄ pflegt den wissenschaftlichen Austausch, fördert mit speziellen Programmen für Schüler, Lehrkräfte und Studierende die Wissenschaftsbildung und engagiert sich im Dialog mit der Gesellschaft – mit öffentlichen Vorträgen und Diskussionen sowie über ihre Website www.gdnae.de
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