Virusähnliche Transposons überwinden die Artenschranke
Wissenschaftler:innen wissen seit Jahrzehnten, dass Gene von einer Art auf eine andere übertragen werden können, sowohl bei Tieren als auch bei Pflanzen. Der Mechanismus, wie ein solch unwahrscheinliches Ereignis abläuft, war aber bisher unbekannt. Jetzt identifizierten Forschende der Gruppe von Alejandro Burga am Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften einen Vektor für horizontalen Gentransfer (HGT) in Fadenwürmer. Die Ergebnisse, die am 29. Juni im Fachjournal Science veröffentlicht wurden, könnten bei der Bekämpfung von Krankheitserregern Anwendung finden.
Fische, die in den arktischen und antarktischen Ozeanen leben, haben ausgeklügelte Strategien entwickelt, um zu verhindern, dass ihr Blut und ihr Gewebe in den unwirtlichen polaren Gewässern gefrieren. Eine dieser Anpassungsstrategien ist die Entwicklung von Genen, die Gefrierschutzproteine produzieren. Vor mehr als einem Jahrzehnt entdeckten Wissenschaftler:innen jedoch mit Erstaunen, dass Heringe und Stinte - zwei völlig unterschiedliche Arten - genau dasselbe Frostschutzprotein in ihren Genomen kodiert hatten, was auf einen Gentransfer zwischen ihnen hindeutet. Beispiele wie dieses werfen die Frage auf: Wie können Gene zwischen völlig unterschiedlichen Arten „springen“? Dieses seltene Phänomen, das als horizontaler Gentransfer (HGT) bezeichnet wird, hat Evolutionsbiolog:innen lange Zeit vor ein Rätsel gestellt. Und obwohl jedes Jahr neue Fälle von HGT in allen Zweigen des Lebens entdeckt werden, sind die Mechanismen, die für diese Transfers verantwortlich sind, weitgehend unbekannt geblieben.
Nun haben Wissenschaftler:innen aus der Forschungsgruppe von Alejandro Burga am IMBA nicht nur ein HGT-Ereignis im Tierreich auf frischer Tat ertappt, sondern auch einen der lange gesuchten Überträger identifiziert. Mit Hilfe genetischer Detektivarbeit wiesen Burga und sein Team ein HGT-Ereignis zwischen zwei Wurmarten nach, die sich genetisch so sehr voneinander unterscheiden wie der Mensch vom Fisch. Außerdem konnten sie die Ursache dafür identifizieren: eine Familie von virusähnlichen Transposons namens Mavericks.
Schuldiger festgenagelt: Mavericks als Vektoren von HGT
„Mavericks waren bereits als eine Klasse von Transposons bekannt, aber unsere Arbeit setzt sie zum ersten Mal mit HGT in Verbindung“, sagt der Studienleiter Alejandro Burga. „Wir wussten, dass HGT zwischen Tierarten stattfindet, aber hatten keine Ahnung, wie. Dies ist das erste Mal, dass wir einen Schuldigen definitiv festnageln konnten“, sagt die Erstautorin der Studie, Sonya Widen, Postdoktorandin in der Burga-Forschungsgruppe.
Als Mavericks Mitte der 2000er Jahre entdeckt wurden, hielt man sie zunächst für große Transposons, also egoistische genetische Elemente, die im Genom auf Kosten ihres Wirts springen und sich selbst vermehren. Schnell wurden Mavericks in den meisten Zweigen der Eukaryoten, einschließlich dem Menschen, nachgewiesen. Man kann also davon ausgehen, dass Mavericks vor langer Zeit entstanden sind.
Transposons und Viren, der Schmelztiegel der Natur?
Schon bald tauchten Beweise dafür auf, dass Mavericks Gene enthalten, die für virale Elemente kodieren. Zu diesen frühen Berichten über virale Gene gehörten ein Kapsid und eine DNA-Polymerase. „Die Evolution von Transposons und Viren ist eng miteinander verwoben“, sagt Burga. Aber das Kapsid und die DNA-Polymerase alleine erlauben es einem Transposon jedoch nicht, das Genom seines Wirts zu verlassen und die Zellen eines völlig anderen Wirts zu infizieren. Jetzt haben die IMBA-Forscher:innen das fehlende Glied gefunden: Mavericks in Wurmgenomen haben ein sogenanntes Fusogen-Protein erworben, ein Transmembranprotein, das die Membranfusion zwischen verschiedenen Zellen vermittelt. Die Autor:innen stellen die Hypothese auf, dass Mavericks durch den Erwerb eines Fusogens in die Lage versetzt wurden, virusähnliche Partikel zu bilden, die mit den Zellmembranen anderer Organismen verschmelzen und diese infizieren können. „Unseres Wissens wurde bisher kein Fusogen in den Mavericks gefunden. Daher vermuten wir, dass die Wurm Mavericks ihre Sequenz von einem anderen Virus übernommen haben“, sagt Widen. „Transposons und Viren kann man sich als Schmelztiegel der Natur vorstellen. Ihre Verbindung kann unvorhersehbare Auswirkungen haben und zu Genom-Innovationen führen“, erklärt Burga.
Was bedeutet HGT?
In der vorliegenden Studie stieß das IMBA-Team unter der Leitung von Alejandro Burga und den Co-Erstautor:innen Sonya Widen und Israel Campo Bes, einem ehemaligen Masterstudenten in der Burga-Forschungsgruppe, „völlig zufällig“ auf HGT, so Widen. Tatsächlich untersuchte das Team den evolutionären Ursprung eines egoistischen Elements im Fadenwurm Caenorhabditis briggsae. In detektivischer Kleinarbeit konnten sie die Sequenz dieses egoistischen Gens zu einem anderen Fadenwurm, C. plicata, zurückverfolgen, der eine fast identische Kopie trug. Dieser Befund ist überraschend, weil C. briggsae und C. plicata zwei reproduktiv isolierte Arten sind. „Ihre Genome sind so unterschiedlich wie die von Menschen und Fischen, und doch haben sie beide ein fast identisches Gen, das eindeutig Merkmale eines evolutionär jüngsten HGT-Ereignisses aufweist“, sagt Campo Bes. „Wir haben uns das Genom von C. plicata genau angesehen und festgestellt, dass die ursprüngliche Sequenz, aus der das egoistische Gen in C. briggsae hervorging, in C. plicata in ein Maverick-Gen eingebettet war. Die Tatsache, dass sich dieses neu eingeführte Gen anschließend zu einem neuen egoistischen Gen in C. briggsae entwickelt hat, zeigt die Auswirkungen von HGT auf die Genomevolution“, sagt Widen. Das IMBA-Team zeigte dann, dass Mavericks für Dutzende unabhängiger HGT-Transfers zwischen Wurmarten verantwortlich sind, die sogar verschiedenen Gattungen angehören und rund um den Globus zu finden sind.
Landwirtschaftliche und medizinische Bedeutung
Die Wissenschaftler:innen argumentieren, dass die Verbindung zwischen Transposons und Viren ein Schlüsselfaktor für HGT ist. Auch wenn sie ihren Erfolg immer noch kaum glauben können, sind sie sich der Bedeutung bewusst, die ihre Ergebnisse für die Enträtselung von HGT haben könnten. „Als wir diese Ergebnisse zum ersten Mal im Labor sahen, war ich davon überzeugt, dass wir es mit einem Fall von HGT zu tun hatten, aber ich war mir auch sicher, dass wir nie herausfinden würden, wie es passiert ist. Doch die Sterne standen günstig“, sagt Burga. Er vermutet, dass Mavericks und ähnliche virusähnliche transponierbare Elemente HGT in Wirbeltieren und anderen Eukaryoten vermitteln könnten. Schließlich sieht das Team mögliche Anwendungen sowohl im Labor als auch als Schädlingsbekämpfungsmaßnahmen gegen parasitäre Wurmarten: „Wenn sich zeigt, dass der Maverick-vermittelte HGT auf allen Fadenwurmarten anwendbar ist, hat er das Potenzial, eine unschätzbare Ressource zu werden. Neben den reinen Labor- und Forschungsanwendungen wie der genetischen Manipulation von Nicht-Modell-Organismen könnte eine solche Ressource es uns in Zukunft ermöglichen, parasitäre Fadenwurmarten, die von landwirtschaftlicher oder medizinischer Bedeutung sind, genetisch zu verändern“, schließt Burga.
Sonya A. Widen ist Postdoktorandin in der Burga-Forschungsgruppe am IMBA und Mitglied des Vienna International Postdoctoral (VIP2) Fellowship Program am Vienna BioCenter. Israel Campo Bes, ein ehemaliger Masterstudent in der Burga-Forschungsgruppe, ist derzeit Doktorand am Centre for Genomic Regulation (CRG), Barcelona Institute of Science and Technology, Barcelona, Spanien.
Originalveröffentlichung:
Sonya A. Widen*, Israel Campo Bes*, Alevtina Koreshova, Pinelopi Pliota, Daniel Krogull, and Alejandro Burga, Virus-like transposons cross the species barrier and drive the evolution of genetic incompatibilities. Science (2023). DOI: 10.1126/science.ade0705
https://doi.org/10.1126/science.ade0705
*Co-Erstautor:innen
Über das IMBA:
Das Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) ist eines der führenden biomedizinischen Forschungsinstitute in Europa. Das IMBA ist im Vienna BioCenter angesiedelt, Österreichs pulsierendem Cluster aus Universitäten, Forschungsinstituten und Biotech-Unternehmen. Die Forschungsthemen des IMBA umfassen Chromosomenbiologie, RNA-Biologie, egoistische genetische Elemente und Silencing-Mechanismen, funktionelle Genomik, Zell- und Entwicklungsbiologie, Stammzellbiologie, molekulare Medizin, Neurowissenschaften, Organoidforschung und Krankheitsmodelle.
Originalpublikation:
Sonya A. Widen*, Israel Campo Bes*, Alevtina Koreshova, Pinelopi Pliota, Daniel Krogull, and Alejandro Burga, Virus-like transposons cross the species barrier and drive the evolution of genetic incompatibilities. Science (2023). DOI: 10.1126/science.ade0705
https://doi.org/10.1126/science.ade0705
*Co-Erstautor:innen
Weitere Informationen:
https://bit.ly/MavericksHGT-de