IAB-BiB/FReDA-BAMF-SOEP-Studie: Gesellschaftliche Teilhabe von Geflüchteten aus der Ukraine schreitet voran
Wie geht es Ukrainerinnen und Ukrainern hierzulande? In der zweiten Befragungswelle im Forschungsprojekt „Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland“ wurden fast 7.000 Ukrainerinnen und Ukrainer, die vor dem russischen Angriffskrieg geflohen sind, erneut zu ihrer Lebenssituation und Teilhabe-Fortschritten befragt. Ergebnisse haben die Projektpartner – das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB), das Forschungszentrum des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF-FZ) und das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) – im DIW-Wochenbericht 28/2023 veröffentlicht.
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 2022 sind mehr als eine Million Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet, die meisten von ihnen sind Frauen und Kinder. Bereits im vergangenen Spätsommer wurden im Zuge der repräsentativen IAB-BiB/FReDA-BAMF-SOEP-Befragung mehr als 11.000 geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer im Alter zwischen 18 und 70 Jahren, die vom 24. Februar 2022 bis zum 8. Juni 2022 nach Deutschland zugezogen sind und bei den Einwohnermeldeämtern registriert waren, zu ihrer Lebenssituation in Deutschland befragt. Für die Stichprobenziehung wurden zunächst über das Ausländerzentralregister 100 Gemeinden mit einem hohen Anteil von ukrainischen Geflüchteten gezogen. Diese wurden dann gebeten, Adressen der Zielpopulation zur Verfügung zu stellen, aus denen dann zufällig gezogen wurde.
6.754 Ukrainerinnen und Ukrainer erneut befragt
Zur Erhebung und Dokumentation von Veränderungen wurde in der Zeit von Mitte Januar bis Anfang März 2023 eine zweite Befragungswelle durchgeführt, in der aus der Gruppe der erstmals Befragten 6.754 Ukrainerinnen und Ukrainer erneut befragt werden konnten, von denen 6.581 nach wie vor in Deutschland lebten. Von den befragten Personen waren, in beiden Wellen, etwas mehr als 80 Prozent weiblich und das durchschnittliche Alter lag bei knapp 40 Jahren. Durch Verwendung von Gewichten sind die Ergebnisse repräsentativ für die zum Zeitpunkt der zweiten Befragung weiterhin in Deutschland lebenden Geflüchteten der Grundgesamtheit. Beide Erhebungen wurden vom infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft durchgeführt. Der Fragebogen war auf Ukrainisch und Russisch verfügbar und konnte sowohl online als auch auf Papier ausgefüllt werden. Finanziert wird die Studie vom Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI), vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), von der Bundesagentur für Arbeit (BA), vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sowie vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF).
Zweite Befragungswelle zeigt Verbesserung der Lebensbedingungen
Als ein zentrales Ergebnis lässt sich festhalten, dass sich die Lebensbedingungen und Teilhabechancen dieser Geflüchteten hierzulande verbessert haben: Zu Beginn des Jahres 2023 besucht die Mehrheit von ihnen einen Sprach- oder Integrationskurs oder hat diesen bereits abgeschlossen, fast vier von fünf geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern leben in einer privaten Wohnung oder in einem Haus. Der Anteil der erwerbstätigen Geflüchteten ist zwischen Spätsommer 2022 und Jahresbeginn 2023 zwar nur leicht gestiegen, aber unter den nicht erwerbstätigen Geflüchteten besteht ein hohes Interesse, eine Arbeit aufzunehmen. Fast die Hälfte der ukrainischen Geflüchteten beabsichtigt längerfristig in Deutschland zu bleiben, Tendenz steigend.
Für die Studie wurden die Geflüchteten zu ihrer Wohnsituation, Erwerbstätigkeit und Deutschkenntnissen befragt, aber auch zu Themen wie Zufriedenheit und Sorgen, Familienkonstellation vor und nach der Flucht, Kinderbetreuung, vorhandenen sozialen Netzwerken sowie Beratungs- und Unterstützungsbedarfen. Ein weiterer Fokus der Studie liegt auf der Frage nach den Zukunftsabsichten und eventuell geplantem Familiennachzug oder Rückkehrabsichten. Die gewonnenen Daten liefern Erkenntnisse zu Integrationsprozessen und damit verbundenen Bedarfen sowie zu den Auswirkungen von Flucht auf die Schutzsuchenden insbesondere mit Blick auf Frauen und getrennte Familien. Die Studie liefert belastbare Informationen zu Geflüchteten aus der Ukraine und ist damit auch wichtiger Bezugspunkt für politische Entscheidungen.
„Das Zwischenfazit ist durchaus ermutigend – bei der gesellschaftlichen Teilhabe wurden zuletzt deutliche Fortschritte gemacht“, erklärt Markus M. Grabka, SOEP-Direktoriumsmitglied im DIW Berlin. „Ein Selbstläufer ist das jedoch nicht“, ergänzt Yuliya Kosyakova, Leiterin des Forschungsbereichs „Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung“ am IAB in Nürnberg. „Die Geflüchteten benötigen Planungssicherheit, ob und wie sie sich in Deutschland langfristig aufhalten dürfen – auch wenn der Krieg beendet sein wird. Gerade für den Deutscherwerb und die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit sind diese Perspektiven enorm wichtig.“
Vielfach längerfristige Bleibeabsichten
Obwohl bisher nicht klar ist, ob und für wie lange das derzeit bis März 2024 befristete Aufenthaltsrecht für Ukrainerinnen und Ukrainer verlängert werden wird, beabsichtigt zu Beginn dieses Jahres mit 44 Prozent fast die Hälfte der Geflüchteten längerfristig – also zumindest noch einige Jahre oder sogar für immer – in Deutschland zu bleiben. Gegenüber dem Spätsommer 2022 sind das fünf Prozentpunkte mehr. Von den 71 Prozent derjenigen Personen, die nicht für immer in Deutschland bleiben möchten, planen 38 Prozent, nach Kriegsende in die Ukraine zurückzukehren, weitere 30 Prozent wollen einen engen Kontakt nach Deutschland halten und zumindest zeitweise hier leben. Eine große Rolle für die Bleibeabsichten spielen die familiäre Situation und die soziale Integration: Wer beispielsweise eine Partnerin oder einen Partner im Ausland hat, beabsichtigt deutlich seltener für immer in Deutschland zu bleiben. Geflüchtete, die auf (Aus-)Bildungssuche sind, gute Deutschkenntnisse haben und sich hierzulande willkommen fühlen, wollen hingegen wahrscheinlicher für immer bleiben.
Hohe Teilnahme an Integrations- und Sprachkursen
Insbesondere beim Erlernen der deutschen Sprache gibt es bis Anfang 2023 deutliche Fortschritte: Drei von vier ukrainischen Geflüchteten haben zu diesem Zeitpunkt einen oder mehrere Deutschkurse besucht oder bereits abgeschlossen, am häufigsten einen Integrationskurs. Die Deutschkenntnisse haben sich nach eigener Einschätzung der Geflüchteten seit dem Spätsommer 2022 verbessert: „Sehr gute“ oder „gute“ Deutschkenntnisse bescheinigen sich Anfang 2023 zwar mit acht Prozent nur wenige Geflüchtete, die Antwort „es geht“ fällt mit 27 Prozent (gegenüber zuvor 14 Prozent) jedoch deutlich häufiger. Der Anteil der Geflüchteten, die angeben „gar nicht“ der deutschen Sprache mächtig zu sein, hat sich mehr als halbiert (auf 18 Prozent Anfang 2023).
„Da ein Großteil der Geflüchteten zu Jahresbeginn noch einen Integrationskurs besuchte, sollte der Anteil mit Abschlüssen mittlerweile weiter gestiegen sein. Durch weitere Sprachkursbesuche sowie den Austausch im Privaten und im künftigen beruflichen Alltag dürften sich die Deutschkenntnisse noch weiter verbessern“, erklärt Nina Rother, Leiterin des Forschungsfelds „Integration und gesellschaftlicher Zusammenhalt“ am BAMF-FZ in Nürnberg.
Erwerbstätigenquote leicht gestiegen
Aufgrund der hohen Teilnahme an Sprach- und Integrationskursen, durch die die künftigen Arbeitsmarktchancen verbessert werden, ist die Erwerbstätigkeitsquote im Vergleich zum Spätsommer 2022 bisher nur etwas gestiegen: 18 Prozent der 18- bis 64-Jährigen gehen zu Beginn des Jahres 2023 einer Beschäftigung nach, im Spätsommer 2022 waren es 17 Prozent. Mehr als zwei Drittel der ukrainischen Geflüchteten, die Anfang 2023 (noch) keiner Erwerbstätigkeit nachgingen, wollen dies sofort oder innerhalb des kommenden Jahres tun. Das dürfte sich dann auch positiv auf das (bedarfsgewichtete) Haushaltseinkommen der Geflüchteten auswirken, das zum Befragungszeitpunkt bei durchschnittlich 850 Euro liegt. Der Medianwert, also das Einkommen genau in der Mitte der Verteilung, beträgt unter den geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern nur 750 Euro und ist damit insgesamt weniger als halb so hoch wie in der Gesamtbevölkerung in Deutschland.
Psychisches Wohlbefinden von minderjährigen Geflüchteten nach wie vor oft beeinträchtigt
Einen erheblichen Teil der Geflüchteten machen Kinder und Jugendliche aus: Etwa jede zweite Ukrainerin ist mit mindestens einem minderjährigen Kind nach Deutschland gekommen, knapp die Hälfte dieser Kinder ist jünger als zehn Jahre. Die meisten Kinder und Jugendlichen haben ihren Eltern zufolge insgesamt eine gute oder sehr gute Gesundheit, das psychische Wohlergehen hat sich im Vergleich zur ersten Befragung leicht verbessert, liegt aber nach wie vor unter den Normwerten von anderen Kindern und Jugendlichen in Deutschland.
Während fast alle schulpflichtigen Kinder aus der Ukraine eine allgemein- oder berufsbildende Schule besuchen, nehmen nur wenige Eltern die Kindertagesbetreuung in Anspruch – auch wenn die Nutzung zunimmt: Nur jedes zweite Kind im Alter bis einschließlich sechs Jahren nimmt zu Beginn des Jahres 2023 eine außerhäusliche Kinderbetreuung in Anspruch. „Ein ausreichend großes Angebot an KiTa-Plätzen ist für die große Gruppe ukrainischer Geflüchteter in Deutschland wichtig. Für Eltern, um Sprachkurse besuchen und eine Erwerbstätigkeit aufnehmen zu können – und für Kinder, um die Sprache zu lernen, einen strukturierten Alltag zu haben und Freunde zu finden“, betont Andreas Ette, Leiter der Forschungsgruppe „Internationale Migration“ am BiB in Wiesbaden.
Klarheit über künftige Aufenthaltsperspektiven notwendig
Darüber hinaus empfehlen die Studienautorinnen und -autoren der Politik, zügig über die Verlängerung des vorübergehenden Schutzes ukrainischer Geflüchteter über März 2024 hinaus zu entscheiden oder andere längerfristige Aufenthaltsperspektiven zu schaffen. Vor dem Hintergrund der vielfach geäußerten Bleibeabsichten der Geflüchteten sei dies zentral: „Investitionen in die soziale Teilhabe und in Beschäftigungsverhältnisse setzen Planungs- und Rechtssicherheit sowie verlässliche Aufenthaltsperspektiven voraus – sowohl für die Geflüchteten selbst als auch für die deutsche Gesellschaft“, resümieren die Forschenden. Zudem seien weiterhin ausreichende finanzielle Mittel und Personal für Integrationsprogramme, Bildung und Ausbildung erforderlich.
Den DIW-Wochenbericht zur Studie finden Sie unter dem folgenden Link zum Download:
https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.877240.de/23-28.pdf
Weiterführende Informationen zur Studie
Ausführliche Ergebnisse der ersten Befragungswelle wurden im Februar 2023 in Form eines Forschungsberichts veröffentlicht.
Diesen und weitere Informationen zum Download finden Sie auf den Projektwebseiten der beteiligten Projektpartner:
BAMF: https://www.bamf.de/SharedDocs/ProjekteReportagen/DE/Forschung/Integration/projekt-ukr.html
BIB: https://www.bib.bund.de/ukraine-projekt
IAB: https://www.iab.de/ukr-projekt
SOEP: https://www.diw.de/de/diw_01.c.850107.de/projekte/iab-bib/freda-bamf-soep-befragung____gefluechtete_aus_der_ukraine_in_deutschland.html
Die Studie knüpft an die seit 2016 durchgeführte „IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten“ sowie das auch am BiB angesiedelte Familiendemografische Panel FReDA an. Die Teilnehmenden werden nach der zweiten Befragungswelle innerhalb dieser bestehenden sozialwissenschaftlichen Dateninfrastrukturen weiter befragt. Dies bietet die Möglichkeit, langfristige Erkenntnisse über Geflüchtete aus der Ukraine zu gewinnen – sowohl zu Integrationserfahrungen in Deutschland als auch über eine mögliche Rückwanderung ins Heimatland.
Interessierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden die Befragungsdaten voraussichtlich ab dem Jahr 2024 über die Forschungsdatenzentren des SOEP (SOEP-FDZ) und des IAB sowie über FReDA abrufen können.
Weiterführende Links:
IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten (ab 2016):
https://www.diw.de/de/diw_01.c.603160.de/integrierte_studien.html#c_626377
Familiendemografische Panel FreDA:
https://www.freda-panel.de/FReDA/DE/Startseite.html
Ansprechpartner für Medienanfragen:
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)
Marie-Christine Nedoma
Telefon: +49 911 179 1946
E-Mail: iab.presse@iab.de
Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB)
Dr. Christian Fiedler
Telefon: +49 611 75 4511
E-Mail: presse@bib.bund.de
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)
Jochen Hövekenmeier
Telefon: +49 911 943 177 99
E-Mail: pressestelle@bamf.bund.de
Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin)
Sebastian Kollmann
Telefon: +49 30 897 89 400
E-Mail: presse@diw.de
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)
Prof. Dr. Yuliya Kosyakova
Telefon: +49 911 179 3643
E-Mail: Yuliya.Kosyakova@iab.de
Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BIB)
Dr. Andreas Ette
Telefon: +49 611 75 4360
E-Mail: andreas.ette@bib.bund.de
Forschungszentrum des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF-FZ)
Dr. Nina Rother
Telefon: +49 911 943 24700
E-Mail: Dr.Nina.Rother@bamf.bund.de
Sozio-oekonomisches Panel (SOEP)
Dr. Markus Grabka
Telefon: +49 30 89789 339
E-Mail: mgrabka@diw.de
Originalpublikation:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2023-28-1