Die Lebensarbeitszeit in Deutschland steigt – jedoch mit großen Unterschieden
Kann die Verlängerung der Lebensarbeitszeit eine Lösung für die künftigen Probleme einer alternden Gesellschaft sein? Denn, wenn alle länger arbeiten und später in Rente gehen, steigt die Zahl derer, die weiter in die Rentenkasse einzahlen. Über die Lebensarbeitszeit in Deutschland ist bisher wenig bekannt. Forscher*innen des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock und des Bundesinstitutes für Bevölkerungsforschung haben nun in einer Studie untersucht, wie sich die Dauer des Erwerbslebens in Deutschland verändert hat und welchen Einfluss die zahlreichen Arbeitsmarkt- und Rentenreformen in den vergangenen Jahrzehnten hatten.
Das wissenschaftliche Team um Dr. Christian Dudel, Forschungsgruppe Demografie der Arbeit (MPIDR), hat für die Studie Daten des Mikrozensus Deutschland ausgewertet. „Seit 2002 gibt es in Deutschland verschiedene politische Maßnahmen und Reformen, die auf eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit abzielen. Diese Maßnahmen sind in der Regel so konzipiert, dass sie sich an Personen mit einer hohen Arbeitsmarktintegration richten, also an Menschen mit einem hohen Einkommen und einer langen und stabilen Beschäftigungsdauer. Wir haben uns gefragt, ob das überhaupt funktionieren kann bzw. bisher funktioniert hat“, erläutert Dr. Dudel die Motivation für die Studie. Untersucht wurden die Geburtenjahrgänge 1941 bis 1955 und hier die Erwerbsalter von 55 bis 64 Jahren. Betrachtet wurde der Zeitraum von 1996 bis 2019 in Ost- und Westdeutschland. Die Auswertung erfolgte nach Geschlecht, Bildungsstand und beruflicher Qualifikation.
Es wird länger gearbeitet
Ein positiver Befund ist, dass die Lebensarbeitszeit in Deutschland über die Kohorten hinweg in allen Bildungsschichten und Berufsfeldern zunimmt - bei Männern und Frauen. Dennoch gibt es gravierende Unterschiede in der Dauer des Erwerbslebens. Am stärksten verlängert sich die Lebensarbeitszeit bei westdeutschen Männern mit hohem Bildungsniveau. Sie arbeiten im Durchschnitt dreimal so lange wie Frauen mit niedrigem Bildungsniveau in Ostdeutschland. Dennoch erreichen ostdeutsche Frauen insgesamt eine längere Lebensarbeitszeit als Frauen in Westdeutschland. Das liegt auch an der unterschiedlichen Geschichte von Ost- und Westdeutschland. „Ein Grund für die Verlängerung der Lebensarbeitszeit ist der längere Verbleib älterer Arbeitnehmer*innen auf dem Arbeitsmarkt, denn der ist in Deutschland in den vergangenen Jahren mehr oder weniger stabil geblieben. Aber bei Menschen mit sehr niedrigem Bildungsniveau und in Berufen mit geringer Qualifikation steigen die Erwerbsquoten nur sehr langsam“, erklärt Dudel.
Geringverdienende benachteiligt
Vor den jüngsten Arbeitsmarktreformen zielten in der Vergangenheit vor allem darauf ab, einen frühen Renteneintritt attraktiver zu machen. Es ging damals weniger darum, zu verhindern, dass Menschen im Alter aus dem Arbeitsmarkt gedrängt werden. „Die Herausforderung für die Zukunft wird darin bestehen, Politiken zu initiieren, die ein längeres Erwerbsleben ermöglichen, ohne die Ungleichheiten zwischen den verschiedenen Beschäftigungsgruppen zu vergrößern“, so Dudel. Gerade Personen mit niedriger beruflicher Qualifikation sind sonst stark benachteiligt.
„Demnächst werden geburtenstarke Jahrgänge das Rentenalter erreichen. Der Einfluss auf den Arbeitsmarkt könnte möglicherweise dadurch abgemildert werden, dass die nach 1955 Geborenen immer besser ausgebildet sind und damit potentiell länger arbeiten könnten. Dennoch zeigen Prognosen aus anderen Ländern, dass der Anstieg der Lebensarbeitszeit bald stagnieren könnte“, so der Rostocker Wissenschaftler.
Über das MPIDR
Das Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock untersucht die Struktur und Dynamik von Populationen. Die Wissenschaftler*innen des Instituts erforschen politik-relevante Themen wie Altern, Geburtendynamik und die Verteilung der Arbeitszeit über die Lebensspanne, genauso wie den digitalen Wandel und die Nutzbarmachung neuer Datenquellen für die Erforschung von Migrationsströmen. Das MPIDR ist eine der größten demografischen Forschungseinrichtungen in Europa und zählt international zu den Spitzeninstituten in dieser Disziplin. Es gehört der Max-Planck-Gesellschaft an, der weltweit renommierten deutschen Forschungsgemeinschaft.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Christian Dudel
Forschungsgruppe Demografie der Arbeit
dudel@demogr.mpg.de
Mikko Myrskylä
Direktor des MPIDR
myrskyla@demogr.mpg.de
Originalpublikation:
Christian Dudel, Elke Loichinger, Sebastian Klüsener, Harun Sulak, Mikko Myrskylä: The Extension of Late Working Life in Germany: Trends, Inequalities, and the East–West Divide. Demography 10850040.
https://doi.org/10.1215/00703370-10850040