Kommentierte Autobiographie zu wichtigem Vordenker moderner Demokratie vorgelegt
Dr. Frank Schale von der TU Chemnitz veröffentlichte gemeinsam mit Fachkollegen eine kommentierte Autobiographie über den Politologen und Juristen Karl Loewenstein – Interview mit „TUCaktuell“ gibt persönliche Eindrücke von Forscher Frank Schale wieder
Wenn heute weltweit Demokratien unter Druck geraten, dann wird nicht selten nach der „wehrhaften Demokratie“ gerufen. Begründer der Idee, dass sich Demokratien schützen müssen, wenn politische Bewegungen auf ihre Abschaffung zielen – notfalls auch durch den Einsatz militanter Mittel –, ist der heute kaum noch bekannte Politologe und Jurist Karl Loewenstein (1891–1973). Über diesen wichtigen Vordenker einer modernen Demokratie haben Forscherinnen und Forscher unter Beteiligung der Technischen Universität Chemnitz (TUC) nun eine kommentierte Autobiographie veröffentlicht.
Zum Team gehören Dr. Frank Schale, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der TUC, Prof. Dr. Oliver Lepsius (Universität Münster) und Prof. Dr. Robert Chr. van Ooyen (Hochschule des Bundes in Lübeck). „Wir haben eine ganze Reihe von Artikeln, Büchern und Archivalien Loewensteins analysiert. Demnach war einer seiner Grundgedanken, dass der demokratische Rechtsstaat Freiheitsrechte garantiert, die erkämpft – aber auch verteidigt werden müssen“, sagt Frank Schale. Loewenstein habe die wehrhafte Demokratie aber keineswegs als Blankoscheck für weitreichende administrative oder freiheitsgefährdende Eingriffe verstanden. „Unsere Untersuchung zeigt, dass die Überwachung von Demokratiefeinden oder Verbote, zum Beispiel von politischen Gegnerinnen und Gegnern, stets nur letzte Mittel sein können“, so Schale.
Wichtiger sei für Loewenstein eine gemeinsame bürgerliche Kultur, in der klar signalisiert werde, dass politische Spielregeln und Verfassungsprinzipien immer auch Formen des zivilisierten Umgangs seien, deren Verstoß das soziale Miteinander gefährde, so Schale weiter.
Nährboden für Extremismus: Wie eine bürgerliche Kultur ins Rutschen gerät
Die Autobiografie ist auch ein historisches Zeugnis für die rapiden Veränderungen im 20. Jahrhundert mitsamt ihren politischen Verwerfungen – nicht nur in Deutschland und Europa, sondern auch in den USA, Südamerika und Ostasien. Loewensteins Interesse galt der Frage, wie gesellschaftliche Regeln angesichts dieses Wandels bewahrt werden können. So beschreibt Loewenstein, wie die bürgerliche Kultur der Weimarer Republik in den 1920er Jahren, aufgeheizt vom Extremismus, ins Rutschen gerät – und den Weg für den Nationalsozialismus bereitet. Die Verteidigung einer freiheitlichen demokratischen Kultur ist für Loewenstein mehr als Politik. Daher auch der mit „Des Lebens Überfluß“ etwas merkwürdige anmutende Titel der Autobiografie, der an eine Novelle von Ludwig Tieck angelehnt ist. Gemeint ist damit das Glück eines gelungenen Zusammenlebens.
Einer der Väter der deutschen Nachkriegsdemokratie
Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte Loewenstein zu denjenigen, die die Demokratie in der frühen Bundesrepublik mit aufbauten. Zudem arbeitete er an der Ausarbeitung der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“, dem Wiederaufbau der Wissenschaftslandschaft im Nachkriegsdeutschland und der Entnazifizierung mit.
„In der von uns herausgegebenen Autobiographie wird deutlich, warum eine rein administrative Absicherung des demokratischen Verfassungsstaates heikel bleiben muss“, sagt Schale. Rechtsnormen seien stets in einen breiteren kulturellen Rahmen eingebunden. Wo das Verständnis für diesen Zusammenhang fehle, drohe das Scheitern der wehrhaften Demokratie.
Auch die von Loewenstein in seiner Autobiografie beschriebenen und zahlreichen Begegnungen mit Persönlichkeiten aus Politik, Gesellschaft und Kunst dürften nicht nur Forscherinnen und Forscher interessieren, sondern alle an dieser Epoche deutscher Geschichte Interessierten, sagt Schale.
Im Interview mit „TUCaktuell“ gibt Dr. Frank Schale von der TUC einen Einblick in seine persönlichen Eindrücke vom Denken Karl Loewensteins und ordnet ein, inwieweit sich Loewensteins Überlegungen und Analysen zur Demokratie aktualisieren lassen.
Herr Dr. Schale, gemeinsam mit zwei Fachkollegen haben Sie eine kommentierte Autobiographie über Karl Loewenstein vorgelegt. Er prägte den Begriff der „wehrhaften Demokratie“, der in einer Zeit, in der liberale und demokratische Gesellschaften zunehmend unter Druck geraten, stark an Aktualität gewinnt. Loewenstein hatte aber sicher andere Fälle im Blick…
Die primäre Erfahrung für Karl Loewenstein in den 1920er und 1930er Jahren war der Nationalsozialismus, den er nicht nur in Deutschland erlebte, sondern auch in den USA. Dort war er Zeuge, wie nicht nur die Zivilgesellschaft, sondern auch die Polizeibehörden sich offen gegen antidemokratische Gruppierungen einsetzten. In den USA wollte er zeigen, dass Demokratien unterschiedliche Instrumente haben können, um sich gegen ihre Feinde zu wehren. Später hat er vor allem in Südamerika im Auftrag der amerikanischen Regierung gegen nationalistische Bestrebungen von Diktaturen gearbeitet. In seinen gesamten Schriften hat er aber natürlich auch immer auf undemokratische Systeme von links hingewiesen. Mit zunehmendem Alter sah er immer deutlicher, dass die rechtliche Benachteiligung politischer Akteurinnen und Akteure auch dem Machterhalt dienen kann. So war er mit den Parteiverboten in der Bundesrepublik der 1950er Jahre nicht wirklich zufrieden.
Das angesprochene Thema Parteiverbot ist ja gerade sehr aktuell, wenn man an die Diskussionen um ein Verbot der AfD denkt, die nach Auffassung u. a. des Deutschen Instituts für Menschenrechte antidemokratische Positionen vertritt. Welche Position würde Loewenstein als einer der Väter der deutschen Nachkriegsdemokratie hier einnehmen?
Natürlich sind solche Aktualisierungen immer etwas heikel, weil sie ja vom zeitgeschichtlichen Kontext abstrahieren. Da Loewenstein stets auf die Achtung der bürgerlichen Grundfreiheiten als wesentliches Merkmal moderner Verfassungen hinwies, wäre er gegenüber einem Parteiverbot wohl skeptisch. Das hat nicht nur normative Gründe. Es folgt auch aus seiner Überlegung, dass die Vorstellung, ein Verbot einer Partei könne soziale Probleme lösen, rein legalistisch gedacht ist und die Ursachen für ihr Erstarken verkennt. Er selbst sah hier in der Ideologisierung politischer Konflikte eine wesentliche Triebfeder – und zwar nicht nur bei den Feinden der Demokratie. Ein Parteiverbot – ein ‚gefährliches Instrument‘ der wehrhaften Demokratie, wie es der Rechtswissenschaftler Martin Morlok ausdrückte – ist an sehr hohe Hürden gebunden. Aber darin erschöpfen sich die Vorschläge von Loewenstein nicht. Sie reichen von strafrechtlichen Verschärfungen gegenüber bestimmten Propagandadelikten, Änderungen im Parlamentsrecht, bis hin zu Eingriffen ins Beamtenrecht, um durch Polizei und Verwaltung Loyalität gegenüber dem demokratischen Staat durchzusetzen.
Was können wir von Loewenstein über den Aufstieg und Niedergang von Demokratien lernen?
Loewenstein war der Meinung, dass demokratische Herrschaft sehr voraussetzungsreich ist. Damit meinte er, dass moderne Demokratien eine Fortentwicklung von Freiheitsrechten sind. Das Problem besteht nun vor allem darin, dass Freiheitsrechte und demokratische Teilhabe in einer Spannung zueinanderstehen, weil ja demokratische Entscheidungen durchaus Freiheitsrechte eingrenzen können. Umgekehrt werden Grundrechte mitunter dazu benutzt, Mehrheitsentscheidungen zu blockieren. Hinzu kommt, dass auch freiheitliche Demokratien immer noch Staaten sind, in denen Herrschaftsgewalt ausgeübt wird.
Demokratien können für Loewenstein dort entstehen, wo diese unterschiedlichen und widersprüchlichen Anforderungen an ein politisches System in eine stabile Balance gebracht werden. Daher ist für ihn die Orientierung an einer Verfassung zentral und fast wichtiger, als die maximale Beteiligung der Bevölkerung an allen politischen Entscheidungen.
Für Loewenstein gehen Demokratien dann zu Grunde, wenn ihre Mitglieder in der Verfassung bloß noch technische oder politische Regeln sehen und nicht deren normative Bedeutung erkennen. Normen sind für ihn mehr als bloße Herrschaftsregeln, es sind Werte und ein Ausdruck des zivilisierten Miteinanders. Wo dieses Verfassungsbewusstsein fehlt, haben es die Feinde der Demokratie leicht. Die Pointe des späten Loewensteins bestand jedoch darin, dass er erkannte, dass das Vertrauen in die Verfassung vor allem von der politischen Elite vorgelebt werden muss. Dieses Verantwortungsbewusstsein sah er in der Tat auch in den modernen Demokratien nicht immer als gegeben an. Mit Blick auf heute könnte ich mir vorstellen, dass Loewenstein nicht nur die Gegner der Demokratie kritisiert hätte, sondern auch all jene demokratischen Politiker, die selbst populistisch, d. h. für ihn verantwortungslos, Stimmung machen.
Welche Erkenntnisse haben Sie persönlich durch Ihre Erforschung des Lebens von Karl Loewenstein gewonnen?
Was mich nicht nur bei Loewenstein, aber vor allem bei ihm fasziniert, ist die Komplexität von Demokratie. Weder gibt es einfache Lösungen, noch gibt es ein klares Feld zwischen „Gut“ und „Böse“. Ein zweiter Aspekt, den ich für sehr bedenkenswert halte, ist der schon geschilderte Zusammenhang von Freiheitsrechten und Demokratie – so dass etwa eine Formel wie „Wir sind das Volk“ der Komplexität von modernen Demokratien überhaupt nicht gerecht wird. Die Formel ist natürlich eine legitime Reaktion auf eine nichtdemokratische Herrschaft. Aber historisch gab es nie eine Situation, in der das Volk in dieser absoluten Form je geherrscht hat.
Loewenstein hat immer wieder darauf hingewiesen, dass Demokratie zwangsläufig Repräsentation bedeutet. Wenn er nun kritisiert, dass der eine oder andere Politiker verantwortungslos handelt, will er eigentlich damit sagen, wie anspruchsvoll diese Aufgabe ist. Sie verlangt Achtung vor den geschriebenen und ungeschriebenen Grundsätzen einer Verfassung.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Dr. Frank Schale, Telefon 0371 531-34091, E-Mail frank.schale@phil.tu-chemnitz.de
Originalpublikation:
Bibliographische Angaben: Oliver Lepsius, Robert Chr. van Ooyen und Frank Schale: Karl Loewenstein. Des Lebens Überfluß. Erinnerungen eines ausgewanderten Juristen. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen, 2023, 400 S., ISBN 978-3-16-162509-1