„Augmented Reality“ im OP: Neurochirurgen am UKL entwickeln chirurgisches AR-Navigationssystem für Eingriffe am Gehirn
Ein Eingriff am Gehirn findet heute mit minimalinvasiven Verfahren, aber damit auch mit eingeschränkter Sicht für den Operateur statt. Den zu operierenden Bereich muss er sich anhand von vorherigen Aufnahmen und während der Operation mit Hilfe dreidimensionaler Bildinformationen vorstellen. Das wollen die Neurochirurg:innen am Universitätsklinikum Leipzig (UKL) ändern, und haben dafür eine Software zur Unterstützung mittels Augmented Reality (AR) entwickelt. Das Projekt geht nun dank einer hohen Förderung in die nächste Phase.
Prof. Erdem Güresir steht im Operationsaal und sticht mit dem Finger in die Luft vor ihm. Dann wischt er die Luft etwas zur Seite. Der Kollege neben ihm tippt auch ins Leere. Was aussieht wie eine Szene aus dem Spielfilm „Mission impossible“ ist die Vorbereitung für einen Testlauf des AR-Navigationssystems für neurochirurgische Eingriffe, an dessen Entwicklung Klinikdirektor Güresir und das Team der Klinik für Neurochirurgie zusammen mit dem Fraunhofer-Kunststoffzentrum Oberlausitz sowie der ISD Group arbeiten.
Denn der Neurochirurg Güresir und der Ingenieur Kropla neben ihm im OP des Uniklinikums Leipzig tragen Datenbrillen, die sie gerade aktiviert und auf den vor ihnen auf dem OP-Tisch liegenden Modellkopf ausgerichtet haben. Der ist zwar äußerlich komplett unversehrt, dennoch blicken beide in ihn hinein: Die Datenbrille zeigt auf Wunsch einzelne Strukturen und ihre Position im Schädel an. Führt Chirurg Güresir nun ein Instrument über eine kleine Bohrung in das simulierte Gehirn ein, zeigt die Brille auch dessen genaue Position sowie die umliegenden, teils funktionstragenden, Strukturen.
Die Grundlage dafür bilden Aufnahmen mit Computertomographen und Magnetresonanztomographen, die über eine von den Leipzigern selbst entwickelte Softwarelösung ausgelesen und mit Hilfe der Brille durch das Gewebe hindurch „ins Gehirn“ projiziert werden. „Das ist ein großer Gewinn, denn wir sehen so die Realität, angereichert um zusätzliche Informationen, die uns das Operieren immens erleichtern können“, erklärt Prof. Güresir.
Zum einen hat der Chirurg dank der Brille beide Hände frei, statt mit einer ein bildgebendes Instrument halten zu müssen. Und zum anderen können dank der eingeblendeten Lagebilder hochsensible Strukturen, die nicht berührt werden sollten, sichtbar gemacht und so noch besser geschützt werden. Kommt der Chirurg diesen zu nahe, wird das angezeigt - im Bild und per Warnton.
„Bisher arbeiten wir beim Platzieren von Kathetern im Gehirn nach Erfahrungswerten und anhand von anatomischen Lehrbüchern praktisch freihändig“, so der Direktor der Klinik für Neurochirurgie am UKL. „Das ist zu 70 Prozent korrekt, aber in 30 Prozent der Fälle gibt es eben doch individuelle Abweichungen. Und die würden wir gern besser sehen können.“
Mit der Datenbrille wäre alles klar erkennbar, und zwar nach einem schnellen CT. Der Weg des Katheters durch das Gehirn würde als Trajektorie, also als Bewegungspfad, virtuell in das Sichtfeld der Neurochirurgen eingeblendet werden und sich über die reale Patientenanatomie legen. Gerade für Notfälle, so stellt es sich Güresir vor, wäre das ein enormer Gewinn. „Da haben wir keine Zeit für aufwändige Bildgebung und OP-Planung, da muss ein verletztes Gehirn mit einer Drainage schnell entlastet werden, ohne dass wir wichtige Bereiche in Mitleidenschaft ziehen“.
Die Datenbrille könnte dabei direkt im Schockraum der Notaufnahmen zum Einsatz kommen und selbst mit wenig neurochirurgischer Erfahrung ein sicherer Eingriff erfolgen. Auch für Kliniken mit einer weniger modernen Ausstattung als in Europa wäre das eine gute Option für präzise Neurochirurgie. „So eine Brille ist derzeit etwa 100-mal preiswerter als heutzutage übliche computergestützte Navigationssysteme für die Neurochirurgie“, ergänzt Privatdozent Dr. Ronny Grunert.
Gemeinsam mit Prof. Dirk Winkler als medizinischem Entwicklungspartner arbeitet Ingenieur Grunert bereits seit vier Jahren an der Leipziger Universitätsmedizin an der geeigneten Software. Nun ist ein Prototyp verfügbar, der mit allen gängigen Datenbrillen interagieren kann. „Wir haben die Machbarkeit bewiesen, nun müssen wir unsere Idee so weiterentwickeln, dass daraus ein Medizinprodukt entsteht“, beschreiben die Neurochirurgen Güresir und Winkler das Ziel.
Dafür stehen jetzt 1,4 Millionen Euro Fördergelder der Sächsischen Aufbaubank zur Verfügung. „Wir sind sehr optimistisch, dass wir hier etwas Nützliches entwickeln, dass breit zugänglich sein wird und viele Leben retten kann“, sagt Prof. Güresir. Dann tippt er in die Luft, befiehlt „beenden“ und setzt die Brille ab.