Spannende Diskussionen zu nachhaltiger Optimierung der Strukturen in der NeuroIntensiv- und Notfallmedizin bei der ANIM
Prof. Dr. Hartmut Vatter, Bonn, hatte den Fokus der ANIM 2023 vom 19. bis 21. Januar 2023 in Berlin auf die enge interdisziplinäre Verzahnung der neurologischen und neurochirurgischen Notfall- und Intensivmedizin gelegt. Drei Tage war er Kongresspräsident der Arbeitstagung NeuroIntensivMedizin, bei der 950 Teilnehmende zu anregenden Gesprächen und fachlichen Auseinandersetzungen zusammenkamen. In aktuellen Symposien, praxisorientierten Workshops und Fortbildungskursen wurden nicht nur neue Erkenntnisse in Forschung und Wissenschaft und ihre Auswirkungen auf die klinische Praxis diskutiert, sondern auch strukturelle Verbesserungsmöglichkeiten in der NeuroIntensiv- und Notfallmedizin.
„Der Austausch ist das Wesentliche! Machen Sie was draus!“ Der Appell des Tagungspräsidenten Prof. Dr. Hartmut Vatter, Bonn, zur Eröffnung der ANIM 2023 stieß auf offene Ohren. Prof. Dr. Darius Günther Nabavi, Berlin, Präsident der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft (DSG), mit der die Deutsche Gesellschaft für NeuroIntensiv- und Notfallmedizin (DGNI) traditionell ihren Jahreskongress gemeinsam ausrichtet, verwies auf den “gelungenen Mix aus Wissenschaft und Praxis, Bewährtem und Innovation” der 71 Sitzungen, Vorträge und weiteren ePosterpräsentationen. Premiere auf der ANIM2023 und erster Höhepunkt zur Eröffnung war die Vorführung eines Films der DGNI zu verschiedenen Aspekten der Teamarbeit und der Patientenbehandlung in der NeuroIntensiv- und Notfallmedizin. DGNI goes to the movies!
Mit dem wissenschaftlichen Schwerpunkt auf „Entzündung und Immunologie in der NeuroIntensivmedizin“ gab es in allen Bereichen der neurologischen und neurochirurgischen Notfall- und Intensivmedizin hochinteressante Diskussionen neuer Entwicklungen und Erkenntnisse von renommierten Experten – interdisziplinär, interprofessionell und international. „Das medizinisch-wissenschaftliches Thema scheint als pathophysiologische Grundlage für verschiedenste Erkrankungen einen zunehmenden Stellenwert zu bekommen, an der Schwelle zwischen Grundlagenforschung und deren möglicher Anwendung auf verschiedene neurologisch-neurochirurgische Erkrankungen, einschließlich in der Neuro-Intensivmedizin“, so Prof. Vatter.
„NeuroIntensivmedizin – wieviel, wofür, wo und wie spezifisch?“
Der massive Bettendruck im Rahmen der COVID-Pandemie vor dem Hintergrund demographischer Veränderungen war „Motor und Denkanstoß“ zum großen Schwerpunktthema „NeuroIntensivmedizin - wieviel, wofür, wo und wie spezifisch?“ Nicht alle Teile der hochkomplexen fachspezifischen Behandlung müssten auf entsprechend ausgerüsteten und geschulten Neuro-Intensivstationen durchgeführt werden, sondern in speziellen Fällen sei eine erfolgreiche Behandlung auch auf wesentlich breiter verfügbaren, allgemein intensivmedizinischen Stationen möglich. „Dabei sind natürlich zwei Aspekte relevant, zum einen die Krankheitsbilder selbst und zum anderen deren zeitlicher Verlauf“, so Prof. Vatter. Wie, wo und in welchen Phasen Behandlungsabläufe zu optimieren wären, waren wichtige Diskussionsfragen. Angeregt wurde die Mischung einer flächendeckenden, qualitativ hochwertigen Versorgung von relativ häufigen Erkrankungen wie dem Schlaganfall oder Schädel-Hirn-Trauma und einer hoch spezialisierten Behandlung von aneurysmatischen Subarachnoidalblutungen oder Gefäßmalformationen, die nur an wenigen hochspezialisierten Zentren durchgeführt werden könnten. Neurovaskuläre Netzwerke, die miteinander interagieren, könnten eine bundesweite Versorgung auf hohem Niveau ermöglichen.
Präsidentensymposium: Spezifität in der NeuroIntensivmedizin
Das Präsidentensymposium war mit einer hochkarätigen Diskussion nationaler und internationaler, internistischer und anästhesiologischer Intensivmediziner zur Spezifität der NeuroIntensivmedizin ein besonderes Tagungs-Highlight. Prof. Vatter gelang es, herausragende Vertreter der internistischen und anästhesiologischen Intensivmedizin, der Schlaganfallmedizin, der deutschen NeuroIntensivmedizin und der internationalen Intensivmedizin auf eine Bühne zu bekommen, die im Anschluss an die Impuls-Vorträge mit jeweiliger Sicht der Fachdisziplin eine spannende Diskussion auf hohem Niveau initiierten. Wie spezifisch ist die NeuroIntensivmedizin innerhalb der Intensivmedizin? Welche Patienten profitieren davon und in welchen Fällen könnte sie auch durch eine internistische oder anästhesiologische Intensivmedizin abgedeckt werden?
Nach den beeindruckenden Ausführungen von Prof. Dr. José Suarez, Baltimore/US, zeigten weltweit Untersuchungen ein funktionell besseres Überleben und reduzierte Sterblichkeit bei Patienten, die auf NeuroIntensivstationen versorgt werden. Die in USA im Vergleich besseren Rahmenbedingungen des „great level of nursing care“ legten nahe, dass auch in Deutschland eine verbesserte Ausbildung der Pflegenden zu einer erhöhten Versorgungsqualität beitragen könnte.
In einer Situation mit 20 Prozent neurointensivmedizinischen Abteilungen in deutschen Kliniken kam Prof. Dr. Thorsten Brenner, Essen, mit seiner anästhesiologisch-intensivmedizinischen Perspektive „Wieviel Neuro-Intensiveinheiten braucht die Intensivmedizin und wofür?“ zu dem Schluss, dass umfassende Zertifizierungsmöglichkeiten sowie eine flächendeckende Netzwerkstruktur für Bereiche und Kliniken ohne ausreichende Behandlungszahlen nötig seien, um den Patienten evidenzbasierte Therapien anbieten zu können und eine gute Behandlungsqualität sicherzustellen. In seinem Vortrag „Neurointensivmedizin ist nicht Intensivmedizin light“ verdeutlichte Prof. Dr. Julian Bösel, Kassel, wie gefragt die Expertise von Neuro-Intensivmedizinern auch in angrenzenden Fachbereichen ist.
Die Diskussion der neurointensivmedizinischen Spezifität wurde von dem online zugeschalteten Prof. Dr. Christian Karagiannidis, Köln, um die ernüchternde politische Dimension bereichert, welche schlagartigen Änderungen Deutschland bevorstehen: „Die Versorgungsrealität wird uns mit Wahnsinnsgeschwindigkeit überholen!“ Angesichts des demographischen Wandels sei eine „Tsunamiwelle mit Einfluss auf das Gesundheitswesen“ absehbar, bei der mit fünf Millionen weniger Beitragszahlern gleichzeitig fünf Millionen Einwohner mehr medizinisch zu versorgen seien. Um eine flächendeckende Versorgung ohne Einschränkungen für die Patienten zu erreichen, müssten die einzelnen medizinischen Fachdisziplinen „weg von der Wagenburgmentalität” gemeinsam „schlaue Konzepte“ entwickeln. Mit Verweis auf die neuen Möglichkeiten von Telemedizin und Konzepten, Expertisen zu teilen und vor allem Fehlanreize des derzeitigen Abrechnungssystems zu eliminieren, bestehe Verbesserungspotential, die bestehende Übertherapie in Deutschland auf „normales europäisches Maß” zurückzuführen und das „Ambulantisierungspozential“ durchzusetzen, um den derzeitigen Überschuss von 50 Prozent mehr Klinikaufenthalten zu reduzieren.
Akuter Schlaganfall - Time remains Brain
Zeit ist Hirn – beim Schlaganfall zählt jede Sekunde. Im Gesellschaftssymposium der Deutschen Schlaganfall Gesellschaft (DGS) wurde diskutiert, wie entscheidend die frühestmögliche prähospitale Diagnose für ein möglichst gutes Outcome ist. In einem zusammen mit der Berliner Feuerwehr entwickelter Abfrage-Algorithmus zur Schlaganfall-Identifizierung ermöglicht ein speziell konzipierter Rettungswagen (STEMO = Stroke-Einsatz-Mobil), besetzt mit einem Spezialistenteam, bei Patienten mit akutem ischämischem Schlaganfall direkt vor Ort eine Gefäßdiagnostik zum Erkennen großer Arterienverschlüsse sowie die Thrombolysetherapie. So können mehr als die Hälfte der akuten Schlaganfallpatienten zeitnah zum Notruf diagnostiziert und im Idealfall gezielt versorgt werden.
Weitere verbesserte Überlebenschancen ermöglicht das “One-Stop-Management", die Verkürzung der Zeiten innerhalb des Krankenhauses (door-to-groin, door-to-reperfusion) als wichtigste Voraussetzung für den Erfolg der Aktutherapie des Schlaganfalls. Auch die Zeit, die vergeht, bis ein Patient eine systemische Thrombolyse bekommt – durchschnittlich 170 Minuten von der Therapieentscheidung bis zur Intervention – kann nach einer Studie mit einem “Flying Intervention Team” (FIT) mit dem telemedizinischen Schlaganfallnetzwerk Süd Ost Bayern TEMPiS um 90 Minuten verkürzt werden, was den Patienten zugutekommt.
Versorgungsstrategien beim SHT
Die Versorgung von Schwerverletzten mit Schädelhirntrauma (SHT) wurde als herausfordernde interdisziplinäre Aufgabe intensiv diskutiert. Das SHT, bis zu 70 Prozent der Todesfälle bei Polytrauma verantwortlich, ist die Haupttodesursache, gefolgt vom hämorrhagischen Schock. Entscheidend aus Sicht von Notärzten sind nahe präklinische Versorgungsmaßnahmen. Vorgestellt wurde das prioritätenorientierte Schockraum-Management am Universitätsklinikum Bonn, in dem Schwerverletzte synchron und auf Augenhöhe versorgt werden können. Diskutiert wurde auch die Problematik der Überwachung von Patienten mit erhöhtem intrakraniellem Druck zur Vermeidung sekundärer Hirnschäden.
Teleneurologie Netzwerke – Pflege und Therapie
Die für die Medizin adaptierte Videokonferenztechnologie war ein wichtiger Tagungspunkt. Vor allem in der Behandlung von Schlaganfallpatienten kommt der Telemedizin eine immer größere Bedeutung zu. Das noch recht junge medizinische Gebiet der Teleneurologie gilt als ein Meilenstein für die verbesserte Versorgungsqualität bei neurologischen Erkrankungen, speziell in Krankenhäusern, die über keine eigene Spezialabteilung für Schlaganfallpatienten verfügen. Inzwischen soll schon jeder 10. Schlaganfallpatient in Deutschland telemedizinisch behandelt werden. Mit regelmäßigen Schulungen und Fortbildungen werden Ärzten, Pflegekräften und Therapeuten im Rahmen der Schlaganfallnetzwerke Methoden und Fachkompetenz vermittelt. Vorgestellt wurde das neurovaskuläre Netzwerk SOS-Net zur Implementierung des Simulationstrainings in der Schlaganfallakutbehandlung. Speziell das Projekt „TeleSchwindel“ vom Telemedizinischen Schlaganfallnetzwerk Süd Ost Bayern (TEMPIS) versucht, die Versorgung von Patienten mit akut auftretendem Schwindel zu verbessern. Jeder akut auftretene Schwindel könnte einen Schlaganfall zur Ursache haben. Erste Erfahrungen mit Teleneurologischen Angeboten für Therapeut:innen in Nordostdeutschland (TATheN) zeigten, inwiefern bereits etablierte therapeutische Assessmentverfahren telemedizinisch durchgeführt werden können, indem Kliniken ohne eigene neurologische Fachabteilung entsprechendes Fachpersonal via Videosprechstunde für das Assessment von Schlaganfallpatientinnen und -patienten zuschalten, um bei der therapeutischen Befundung fachlich zu unterstützen.
Fort- und Weiterbildung hoch im Kurs
Von der präklinischen Notfallversorgung bis zu den ersten Reha-Maßnahmen bot die ANIM 2023 wieder vielfältige Themen, bei denen der medizinisch-wissenschaftliche Nachwuchs mit über 100 Abstracts eingebunden war und neben Arbeitsergebnissen, neuen Erkenntnissen und aktuellen Themen auch spezielle Fälle präsentierte. Für alle Berufsgruppen, die an der NeuroIntensivmedizin beteiligt sind, gab es ein breites Fort- und Weiterbildungsprogramm sowie einen Austausch mit verwandten Fachgesellschaften und Projekten wie der Initiative of German Neurointensive Trial Engagement (IGNITE), Tutorials und Sitzungen speziell für Pflegekräfte und Therapeuten.
Der eintägige ENLS-Kurs (Emergency Neurological Life Support) unterstützte mit interdisziplinären Algorithmen, Protokollen und Checklisten für das Notfallmanagement junge Mediziner:innen in ihrer praktischen Arbeit auf der Intensivstation und in der Rettungsstelle. Auf drei Tage angelegt war der aus vier Modulen bestehende Neurointensiv Kompakt Kurs mit verschiedenen Workshops. Pflegekurse, praxisorientierte und interprofessionelle Workshops und Fortbildungskurse waren nach zwei Jahren digitaler Kongresse mit zusammen 150 angemeldeten Teilnehmern gut besucht. Die DSG Stroke Winter School, der Ganztageskurs der DSG für das interprofessionelle Team der Stroke Unit, fand schon zum wiederholten Mal auf der ANIM statt.
Gedenksymposium für Wolfgang Müllges
„Frag den Müllges“ – das Gedenksymposium für Wolfgang Müllges machte deutlich, wie sehr der engagierte und empathische Neurologe aus Würzburg, der am 7. Februar 2021 im Alter von 62 Jahren völlig unerwartet verstarb, die DGNI und die NeuroIntensivmedizin geprägt und welche Lücke er hinterlassen hat. Mit seinem unermüdlichen Einsatz für die Fachgesellschaft als Präsident, Vizepräsident und langjähriger Schatzmeister bleibt er vielen Mitgliedern präsent. Prof. Dr. Ralf Gold, Bochum, erinnerte mit seinem Vortrag „Intensivtherapie der Myasthenie“ an die Zeiten produktiver wissenschaftlicher Zusammenarbeit mit Wolfgang Müllges.
Ausblick: ANIM 2024 in Kassel
Prof. Dr. Thomas Westermaier ist nun Präsident der DGNI. Er wurde bei der Mitgliederversammlung im Rahmen der ANIM 2023 bei der Präsidiumswahl der DGNI als Nachfolger von Prof. Dr. med. Julian Bösel, Kassel, bestätigt, der als ehemaliger Präsident jetzt der 1. Vizepräsident der DGNI ist.
Das Interesse an den breit gefächerten Tagungsthemen der ANIM war wieder groß. Die anregenden Gespräche und Auseinandersetzungen können bei der ANIM 2024, die vom 01.-03.02.2024 mit dem Konresspräsidenten Prof. Dr. Julian Bösel im Kongresspalais in Kassel stattfindet, fortgesetzt werden.
Weitere Informationen:
http://www.dgni.de