Unterversorgte Kopfschmerzarten: neue Leitlinie Trigeminusneuralgie und eine oft unerkannte Kombination
5. September 2023 – Im Gegensatz zu Migräne mit bis zu 10 Millionen Betroffenen zählen Trigeminusneuralgie und Clusterkopfschmerzen zu den weniger bekannten Kopfschmerzarten. Für diese Patientinnen und Patienten ist das nicht unbedingt eine gute Nachricht: Denn oft erkennen nur spezialisierte Ärztinnen und Ärzte diese Erkrankungen. Auch die Erforschung dieser seltenen Kopfschmerzarten geht eher langsam voran, weil sie weniger stark im öffentlichen Bewusstsein sind.
Die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft e.V. (DMKG) weist heute anlässlich des Deutschen Kopfschmerztags auf die neue Behandlungsleitlinie Trigeminusneuralgie hin, die nach über einem Jahrzehnt von einem Gremium aus Expertinnen und Experten auf den neuesten Stand gebracht wurde. „Die Trigenimusneuralgie tritt eher im Alter auf – daher müssen wir mit einer Zunahme in den nächsten Jahren rechnen“, so PD Dr. med. Gudrun Goßrau vom Universitätsklinikum Dresden, 1. Vizepräsidentin der DMKG. Dr. med. Katharina Kamm von der LMU München weist darauf hin, dass Menschen, die gleichzeitig von Migräne und dem selteneren Clusterkopfschmerz betroffen sind, oft fünf bis zehn Jahre auf die Diagnosestellung warten müssen. „Wir müssen davon ausgehen, dass diese spezielle Kopfschmerzkombination bei vielen Menschen überhaupt nie erkannt wird“, so die Expertin.
Neue S1-Leitlinie „Trigeminusneuralgie“
Nach mehr als zehn Jahren wurde die S1-Leitlinie „Trigeminusneuralgie“ grundsätzlich überarbeitet. Ein interdisziplinäres Expertengremium, koordiniert durch DMKG und DGN (Deutsche Gesellschaft für Neurologie), hat die aktuelle wissenschaftliche Evidenz zu Diagnose- und Therapiemöglichkeiten der Trigeminusneuralgie und – bei fehlender wissenschaftlicher Evidenz – den Expertenkonsens zusammengefasst.
Die Trigeminusneuralgie zeigt sich durch wiederkehrende und sehr heftige Schmerzattacken von bis zu zwei Minuten Dauer im Versorgungsgebiet des Nervus trigeminus, meist im Ober- oder Unterkiefer. Zwar ist die Trigeminusneuralgie nicht sehr häufig; die Lebenszeitprävalenz liegt bei 0,16 bis 0,7%. Allerdings können die Attacken die Betroffenen stark belasten. Dabei sind Frauen deutlich häufiger betroffen als Männer (60 %:40 %). Das mittleres Erkrankungsalter liegt bei 53-57 Jahren. Aufgrund der demografischen Entwicklung Deutschlands ist von einer Zunahme an Patientinnen und Patienten auszugehen.
„Diagnostiziert wird die Trigeminusneuralgie primär klinisch. Eine MRT (Magnetresonanztomographie) ist erforderlich, dabei bleibt das 3-Tesla-MRT weiterhin Goldstandard“, so PD Dr. Goßrau. Die Trigeminusneuralgie wird zunächst medikamentös behandelt, Carbamazepin ist weiterhin das Mittel der Wahl. Oxcarbazepin besitzt eine vergleichbare Wirkung wie Carbamazepin, ist jedoch in Deutschland nicht zugelassen für die Therapie der Trigeminusneuralgie und kann nur off-label eingesetzt werden. Eine Einschränkung in der Behandlung besteht darin, dass die Krankenkassen in der Regel diese Off-label-Präparate nicht erstatten, obwohl sie indiziert wären. Diese Einschränkung gilt für viele medikamentöse Therapien der Trigeminusneuralgie und hat Einfluss auf die Versorgungsrealität der Patientinnen und Patienten.
Ein zugelassenes Medikament ist Phenytoin, das bei einer Zunahme der Schmerzen eingesetzt wird. Als dauerhafte Medikation wird es in Kombinationstherapien eingesetzt, diese können sinnvoll sein, da dadurch die Einzeldosen reduziert werden können und synergistische Effekte möglich sind. Berücksichtigt werden müssen insbesondere beim Einsatz von Carbamazepin und Phenytoin zahlreiche pharmakologische Interaktionen und auch die umfangreichen Nebenwirkungen. Dies ist bei Patientinnen und Patienten im höheren Lebensalter und mit vorhandener Polypharmazie klinisch relevant, erklärte PD Dr. Goßrau.
Bei unzureichender Wirkung der medikamentösen Prophylaxe oder bei intolerablen Nebenwirkungen sollten operative oder ablative Therapieverfahren erwogen werden. Dabei entscheidet die Ursache der Trigeminusneuralgie über einsetzbare Verfahren, aber auch allgemeine Operations- und Narkoserisiken sowie die Wünsche der Patientinnen und Patienten werden in der Entscheidungsfindung berücksichtigt.
Migräne und Clusterkopfschmerz gleichzeitig: doppelt betroffen
Menschen, die unter einer Migräne oder unter Clusterkopfschmerz leiden, stehen vor besonderen Herausforderungen und benötigen umfassende Diagnostik und Behandlungsansätze. Mit 8 bis 10 Millionen Betroffenen in Deutschland ist Migräne eine sehr häufige Erkrankung, die insbesondere Frauen betrifft.1 Der Clusterkopfschmerz ist hingegen viel seltener, in Deutschland geht man von rund 120.000 Betroffenen aus.2 Männer sind häufiger betroffen als Frauen, das Verhältnis liegt bei 3 : 1. Ca. 10 bis 20 % der Clusterkopfschmerzpatientinnen und -patienten leiden zusätzlich an einer Migräne. Nicht bekannt dagegen ist, wie häufig Migränepatientinnen und -patienten an Clusterkopfschmerz leiden, so Dr. Kamm.
„Beide Erkrankungen sind in Deutschland unterdiagnostiziert. Insbesondere für den Clusterkopfschmerz gilt, dass es bis zur Diagnosestellung 5 bis 10 Jahre dauern kann“, erklärte Dr. Kamm, Ärztin der Neurologischen Klinik und Poliklinik des LMU Klinikums in München. Die beiden Kopfschmerzarten unterscheiden sich in ihrer klinischen Präsentation deutlich3, z. B. tritt der Clusterkopfschmerz mit trigemino-autonomen Begleitsymptomen wie einem tränenden Auge oder einer laufenden Nase auf. Während der Kopfschmerz-Attacke sind Patientinnen und Patienten typischerweise sehr unruhig und müssen sich bewegen. Dahingegen verstärkt sich der Kopfschmerz bei einer Migräneattacke durch körperliche Aktivität typischerweise und es besteht eine Reizempfindlichkeit, sodass Betroffene sich eher zurückziehen. Sofern die beiden Kopfschmerzarten gemeinsam auftreten, ist die klinische Präsentation meist nicht mehr so eindeutig, was die Diagnostik zusätzlich erschwert. Dies ist ein Grund, warum insbesondere für Clusterkopfschmerzpatientinnen und -patienten häufig viele Jahre bis zur Diagnosestellung vergehen.
Als Kopfschmerzärztinnen und -ärzte wünschen wir uns, dass Menschen mit unklaren oder sehr beeinträchtigenden Kopfschmerzen schneller und häufiger von der Hausarztpraxis in eine Kopfschmerzambulanz oder eine neurologische Praxis überwiesen werden.
Literatur
1 Pfaffenrath V, Fendrich K, Vennemann M et al. Regional variations in the prevalence of migraine and
tension type headache applying th e new IHS criteria: the German DMKG Headache Study. Cephalalgia.
2009;29(1):48 57. doi: 10.1111/j.1468 2982.2008.01699.x
2 GaulGaul C,C, DienerDiener HC,HC, MüllerMüller OMOM.. ClusterCluster HeadacheHeadache –– ClinicalClinical FeaturesFeatures andand TherapeuticTherapeutic Options:Options: DtschDtsch ÄrzteblÄrztebl IntInt 2011;2011; 108(33):108(33): 543543--9.9. Doi:Doi: 10.3238/arztebl.2011.054310.3238/arztebl.2011.0543
3 AlAl--MahdiMahdi AlAl--KaragholiKaragholi MM etet al.al. Debate:Debate: AreAre clustercluster headachesheadaches andand migrmigraiainene distinctdistinct headacheheadache disorders?disorders? TheThe JournalJournal ofof HeadacheHeadache andand Pain.Pain. 23.23. 151151 (2022)(2022)
Die Aufzeichnung der Pressekonferenz finden Sie hier: Online-Pressekonferenz
Fachlicher Kontakt für Medien
PD Dr. med. Gudrun Goßrau
Fachärztin für Neurologie – Spezielle Schmerztherapie, Leiterin der Kopfschmerzambulanz, Universitätsklinikum Dresden
gudrun.gossrau@ukdd.de
Pressekontakt
Pressestelle der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft e.V. Initiativenbüro »Attacke! Gemeinsam gegen Kopfschmerzen« c/o albertZWEI media GmbH, Oettingenstr. 25, 80538 München, Tel.: 089 4614 86-29 E-Mail: presse@attacke-kopfschmerzen.de www.attacke-kopfschmerzen.de Pressesprecher der DMKG: PD Dr. med. Charly Gaul
Die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft e.V. (DMKG, www.dmkg.de) ist seit 1979 die interdisziplinäre wissenschaftliche Fachgesellschaft für Kopf- und Gesichtsschmerzen, in der Ärzt:innen, Psycholog:innen, Physiotherapeut:innen, Pharmakolog:innen und Apotheker:innen organisiert sind. Die DMKG setzt sich für die Verbesserung der Therapie der vielen Millionen Patient:innen in Deutschland mit akuten und chronischen Kopfschmerzen ein. Die Fachgesellschaft fördert die Forschung und organisiert Fortbildungen für medizinische Fachberufe sowie einmal jährlich gemeinsam mit der Deutschen Schmerzgesellschaft den Deutschen Schmerzkongress.
Mit der Initiative »Attacke! Gemeinsam gegen Kopfschmerzen« will die DMKG die Kopfschmerzversorgung verbessern. Im Fokus stehen Migräne, Kopfschmerz durch Medikamentenübergebrauch, Kopfschmerz vom Spannungstyp und Clusterkopfschmerz. Das Angebot richtet sich an alle, die in der Versorgung von Kopfschmerzpatient:innen tätig sind: www.attacke-kopfschmerzen.de. Die Initiative wird finanziell unterstützt von den Unternehmen AbbVie, Lilly, Lundbeck, Novartis und Teva. Alle fachlichen Inhalte sind von Expertinnen und Experten aus den Reihen der unabhängigen DMKG ehrenamtlich verfasst und nicht von Werbebotschaften beeinflusst.