Universitätsmedizin Magdeburg gewinnt herausragende Heisenberg-Forscherin
Medizinhistorikerin Prof. Dr. phil. Bettina Hitzer ist zum Start des Wintersemesters auf den Lehrstuhl für Geschichte der Medizin an die Medizinische Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg berufen worden.
Zum 1. Oktober 2023 ist Prof. Dr. phil. Bettina Hitzer dem Ruf an die Medizinische Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg gefolgt und besetzt die neue W3-Professur für Geschichte der Medizin. Die Medizinhistorikerin übernimmt damit auch die Leitung des Fachbereichs Geschichte, Ethik und Theorie der Medizin. Die bisherige Leiterin Prof. Dr. Eva Brinkschulte hat sich nach 20 Jahren an der Universität Magdeburg in den Ruhestand verabschiedet. Hitzer wird aufgrund ihrer herausragenden Expertise in dem Bereich Neuere und Neueste Geschichte seit 2020 durch das renommierte Heisenberg-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Die Dekanin der Medizinischen Fakultät, Prof. Dr. Daniela Dieterich, betont: „Angesichts des rasanten Fortschritts in der modernen Medizin ist die intensive Auseinandersetzung mit medizinhistorischen Entwicklungen und den ethischen, politischen oder sozialen Fragestellungen, die sich daraus für medizinisches Handeln ergeben, wichtiger denn je geworden. Wir freuen uns deshalb sehr, dass es gelungen ist, eine so herausragende Wissenschaftlerin zu gewinnen, die mit ihrer Arbeit die Sichtbarkeit dieses interdisziplinären Faches in den vergangenen Jahren maßgeblich vorangetrieben hat.“
„Medizingeschichte ist nach meinem Verständnis nicht nur eine Brücke zwischen den universitären Disziplinen, sondern auch zwischen Medizin und Öffentlichkeit“, erklärt Hitzer. Ziel ihrer Forschung sei es deshalb, die gesellschaftliche, politische, kulturelle und ökonomische Dimension von Medizin in all ihren Facetten kritisch zu reflektieren und mit Blick auf Gegenwartsfragen zu diskutieren. Im Rahmen Ihrer Forschung ist die gebürtige Hamburgerin bereits in einer Reihe internationaler und interdisziplinärer Kooperationsprojekte vertreten.
Die Geschichte der Krebserkrankung
Ein wichtiges Forschungsgebiet der Historikerin ist die Geschichte der Krebserkrankung und wie sich der medizinische und gesellschaftliche Umgang mit der Krankheit seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gewandelt haben. „Diesem Thema habe ich mich aus einer besonderen Perspektive genähert: mit der Frage danach, wie Emotionen diese Geschichte geprägt haben und welche Bedeutung ihnen im Laufe des 20. Jahrhunderts im Rahmen dieser Geschichte zugemessen wurden“, so Hitzer, die dazu ein Beispiel erläutert. „Bis vor etwa vierzig Jahren war die Krebskrankheit weitgehend tabuisiert. Dahinter stand die ärztliche Überzeugung, dass eine Krebsdiagnose einen Menschen in Verzweiflung stürzen würde. Da es als ärztliche Aufgabe begriffen wurde, Patientinnen und Patienten vor solchen Gefühlen zu schützen, wurde die Diagnose verschwiegen.“ Dieses Schweigen hatte laut Hitzer jedoch vielfache Rückwirkungen auf die Beziehung zwischen Ärzt:innen und Patient:innen und stellte oft eine enorme Belastung dar. Darüber hinaus zog es Kreise und veränderte Beziehungen und Gefühle der Betroffenen, ihrer Angehörigen und Freund:innen. Wie sich das Empfinden von Krankheit und Leiden im 20. Jahrhundert verändert hat, erzählt Hitzer ausführlich in dem aus ihrer Habilitationsschrift hervorgegangenen Buch „Krebs fühlen. Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts". Das Buch wurde 2020 mit dem Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Zudem lieferte Hitzer das wissenschaftliche Konzept für die aktuelle Ausstellung „Da ist etwas. Krebs und Emotionen“ im Berliner Medizinhistorischen Museum, die auf diesem Buch aufbaut. Die Ausstellung ist noch bis zum 28. Januar 2024 zu sehen.
Die Adoption von Kindern nach 1945
Derzeit arbeitet Hitzer an einem Forschungsprojekt zur Geschichte der Adoption von Kindern nach 1945 mit Blick auf die Erforschung von Schutz- und Risikofaktoren psychischer Gesundheit und Resilienz. Im Rahmen einer Interviewstudie untersucht sie, wie Adoptionsvermittlung in der jüngeren Vergangenheit funktioniert hat, unter welchen Umständen leibliche Mütter oder Eltern ihre Kinder zur Adoption freigegeben haben und wie Adoptivfamilien mit diesem Lebensthema umgegangen sind. „Zwischen 1945 und dem Jahr 2000 hat es in diesem Bereich einen enormen Wandel gegeben. Es zeigt sich auch, dass der Einfluss von Psychologie, Psychotherapie und Medizin hier sehr groß war. Denn Adoptionsvermittlung orientierte sich oft an den wissenschaftlichen Annahmen über ein psychisch gesundes Aufwachsen. Zudem wurden den Adoptiveltern oft entsprechende Ratschläge oder Broschüren mit auf den Weg gegeben“, erklärt Hitzer. Das Projekt ist Teil des durch Hitzer 2021 mitgegründeten internationalen Netzwerkes „In Search of the Migrant Child“, das sich mit der Migration von Kindern beschäftigt.
Das Mensch-Maschine-Verhältnis
Ein weiteres Feld, dem sich die Medizinhistorikerin zukünftig intensiv widmen möchte, ist die Frage, wie Patient:innen medizintechnische Innovationen erfahren haben und wie in den Entwicklungsprozessen, also in dem, was heutzutage als translationale Medizin bezeichnet wird, diese Patient:innenperspektive reflektiert wurde. Dabei interessiert sie, wie die Translationsprozesse, beispielsweise die Übernahme von Technologien aus militärischen Kontexten, die Art und Weise der klinischen Anwendung und damit letztlich auch der Patientenerfahrung beeinflusst haben. „In den vergangenen Jahren habe ich dazu bereits im Hinblick auf die Einführung der Großbestrahlungsgeräte in die Krebstherapie der 1950er Jahre geforscht. An diese Forschung möchte ich anknüpfen, nicht nur in Bezug auf Translation in der Onkologie, sondern auch in Bezug auf andere medizintechnische Innovationen. Hier ergeben sich für mich vielfältige und ausgesprochen interessante Anknüpfungspunkte an der Universität Magdeburg. Die translationale Medizin in der Onkologie zählt zu den Schwerpunkten der Medizinischen Fakultät und das Feld der Medizintechnik hat in Magdeburg großes Gewicht“, so Hitzer.
Alle medizinischen Fächer, ihre Therapien und Technologien sind in spezifischer Weise historisch geprägt. Hitzer ist es im Rahmen ihres Lehrkonzeptes deshalb ein besonderes Anliegen, Studierenden die notwendigen Kompetenzen zu vermitteln, um einen eigenen Standpunkt ärztlichen Denkens und Handelns zu entwickeln und auch zu vertreten. Das bedeutet letztlich, das eigene ärztliche Wirken lebenslang kritisch zu hinterfragen und über dessen Zeitgebundenheit nachzudenken.
Zur Person:
Bettina Hitzer, Jahrgang 1971, studierte Theaterwissenschaften, Germanistik, Romanistik und Geschichtswissenschaften an der FU Berlin und der Universität Paris (Sorbonne). Die Promotion erfolgte an der Universität Bielefeld, wo sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts tätig war. Hitzer leitete die Minerva-Forschungsgruppe "Gefühl und Krankheit. Geschichte(n) einer komplizierten Beziehung" am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin. Seit 2020 wird sie durch das renommierte Heisenberg-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert. Bevor sie 2022 als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Bereich Geschichte, Ethik und Theorie der Medizin der Medizinischen Fakultät der Universität Magdeburg wechselte, machte Hitzer am Hannah¬Arendt-lnstitut für Totalitarismusforschung e. V. der TU Dresden Station. Ihre Arbeiten zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte sowie zur Migrations- und Religionsgeschichte wurden 2016 mit dem Walter-de-Gruyter-Preis der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet.
Hintergrund:
Um in Sachsen-Anhalt eine Professur an einer Universität zu erlangen, muss gemäß §36 des Hochschulgesetzes des Landes Sachsen-Anhalt (HSG LSA) ein Berufungsverfahren durchgeführt werden. Geeignete Kandidat:innen durchlaufen dabei ein umfangreiches Verfahren. Eine mit mehreren Expert:innen besetzte Berufungskommission begutachtet die Leistungen der Kandidat:innen in Forschung, Lehre und bei klinisch relevanten Professuren auch in der Krankenversorgung.