Tübinger Modellprojekt: Blaupause für Umgang mit zukünftigen Pandemien?
Während der COVID-19 Pandemie wurden eine Reihe von einschneidenden Maßnahmen ergriffen, um das Infektionsgeschehen auszubremsen. Die gravierendsten unter ihnen waren Lockdowns, die das gesellschaftliche Leben auf ein Minimum reduzierten, um damit die Verbreitung des Virus zu verlangsamen. Nicht ohne Nebenwirkungen. Die Schließungen von Geschäften sowie Kontaktverbote führten zu hohen ökonomischen und sozialen Kosten. Im Frühjahr 2021 fand deshalb ein deutschlandweit einmaliges Modellprojekt „Öffnen mit Sicherheit“ in Tübingen statt. Unter den Bedingungen von engmaschigen Antigen-Schnelltests öffneten Restaurants und der Einzelhandel.
Ergebnisse der Begleitstudie im Wissenschaftsjournal Frontiers in Public Health erschienen
Das Pilotprojekt startete am 16. März 2021 und lief bis zur Einstellung durch Inkrafttreten der „Bundes-Notbremse“ am 24. April 2021. Initiiert wurde es durch Oberbürgermeister Palmer und die Tübinger Pandemie-Beauftragte Dr. Federle, die die Ideengeberin war, in Abstimmung mit dem Land Baden-Württemberg. Besucherinnen und Besucher konnten nach vorherigem negativem Antigen-Schnelltest einen Tagespass erhalten, der es ihnen ermöglichte, Restaurants, Cafés und Geschäfte zu besuchen. Die wissenschaftliche Studie wurde durch die Tropenmedizin in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Roten Kreuz Tübingen, dem Institut für Klinische Epidemiologie und angewandte Biometrie, dem Deutschen Institut für Ärztliche Mission e. V. und der CeGaT GmbH durchgeführt.
Diskrepanz zwischen Antigen-Schnelltest und PCR
Das primäre Ziel der Studie war es zu bewerten, wie verpflichtende Antigen-Schnelltests die Wiedereröffnung öffentlicher Einrichtungen ermöglichen könnten, ohne einen Anstieg der Infektionen zu riskieren. Mehr als 165.000 Schnelltests wurden während des Modellprojektes durchgeführt. In die Studie flossen die Tests von 4118 Personen ein. 116 der Studienteilnehmenden waren mittels Schnelltest positiv getestet. Ein anschließender PCR Test ergab jedoch, dass 55 (47%) von ihnen fälschlicherweise als positiv bezeichnet wurden. Dies könnte an fehlerhafter Testdurchführung, Kreuzkontamination oder mit anderen Faktoren zusammenhängen. Die Überprüfung von 2282 negativ getesteten Personen durch PCR ergab hingegen keinen einzigen falsch negativen Fall.
„Wir verbuchen es als Erfolg, dass durch das engmaschige Testen keine infizierten Personen Zugang zum Modellprojekt erhalten haben. Die hohe Anzahl falsch positiver Fälle deutet jedoch darauf hin, dass bei zukünftigen Antigen-Schnelltests im Bereich der analytischen Sensitivität Verbesserungspotenzial besteht“, fasst Dr. Dr. Carsten Köhler, Direktor des Kompetenzzentrums Tropenmedizin Baden-Württemberg, zusammen.
Modellprojekt mit Zukunft?
„Das engmaschige Testen kann in Teilen zu einer höheren Rate entdeckter Fälle und schlussendlich zu einer höher beobachteten Inzidenz geführt haben“, erklärt Prof. Dr. Velavan, Letztautor der Studie. „Darüber hinaus muss die Inzidenz in der Stadt und im Landkreis zum Zeitpunkt des Projektes aber mit Vorsicht betrachtet werden, da auch sie Besucherinnen und Besucher von außerhalb miteinschließt, sobald diese positiv innerhalb der Grenzen des Landkreises getestet wurden“, führt Prof. Velavan weiter aus. So lag die 7-Tage Inzidenz bei Beginn bei unter 50 Fällen pro 100.000 Einwohner im Landkreis, im Stadtgebiet sogar darunter. Zum Ende des Projektes am 24. April lag die Inzidenz im Landkreis jedoch bei knapp über 200 Fällen pro 100.000 Einwohner. In der Stadt hingegen bei knapp unter 100, wobei für die Maßnahmen die Entwicklungen in den Landkreisen entscheidend war.
Des Weiteren müssen für zukünftige Teststrategien auch neue Virusvarianten miteinbezogen werden, da diese einen erheblichen Einfluss auf die Sensitivität der Schnelltests haben. Eine pauschale Aussage darüber zu treffen, wie sehr das Modellprojekt Einfluss auf die steigende Inzidenz hatte, ist aufgrund der Vielzahl von Einflussfaktoren kaum möglich. „Mit einer höheren Anzahl von Schnelltests ist das Modellprojekt durchaus interessant für künftige Pandemien. Entscheidend bleiben aber Faktoren wie Infektiosität des Virus, die Verfügbarkeit und Leistungsfähigkeit der Schnelltests sowie deren Empfindlichkeit“, resümiert Prof. Dr. Kremsner, Institutsdirektor der Tropenmedizin.
Originalpublikation:
https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpubh.2023.1159622/abstract