Hamas-Israel-Konflikt: „Humanität ist das Gebot der Stunde“
Die Angriffe der Terrororganisation Hamas auf Israel und Israels Gegenangriff auf den Gazastreifen halten die politische Welt seit dem 7. Oktober 2023 in Atem. Wie der Konflikt rechtswissenschaftlich einzuordnen ist, beschreibt Prof. Dr. Pierre Thielbörger in einem Artikel in der Neuen Juristischen Wochenschrift vom 26. Oktober 2023. Thielbörger ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht, kurz IFHV, der Ruhr-Universität Bochum. In seinem Artikel zeigt er auf, wie sich das Recht Israels auf Selbstverteidigung völkerrechtlich herleiten lässt und was das Völkerrecht im Hinblick auf den Schutz der Zivilbevölkerung verlangt.
„Einige Aspekte werden in der öffentlichen Diskussion oft unterbeleuchtet oder falsch dargestellt“, sagt Thielbörger. Komplex wird die Situation dadurch, dass viele Fragen juristisch nicht abschließend geklärt sind: Ist Palästina ein Staat? Wenn ja, gehört der Gazastreifen zu dessen Staatsgebiet, obwohl die Abbas-Regierung im Westjordanland hier nahezu keine Kontrolle hat? Und wenn nicht, gilt das Selbstverteidigungsrecht dann überhaupt gegen nicht-staatliche Akteure, die einen bewaffneten Angriff verübt haben? „Außerdem stellt sich die Frage, ob die oft zitierte ‚israelische Besatzung des Gazastreifens‘ eine solche im Rechtsinne ist, und welche Besonderheiten sich daraus ableiten lassen“, ergänzt Pierre Thielbörger. Der Völkerrechtler diskutiert in seinem Artikel diese und weitere Fragen und kommt nach detaillierter Analyse zu dem Schluss, dass Israel zwar in der Tat das Recht habe, sich gegen die Angriffe der Hamas zu verteidigen. Allerdings sei der juristische Weg, um zu diesem Ergebnis zu gelangen, deutlich komplizierter als oft angenommen.
Recht auf Selbstverteidigung ist rechtlich streng reguliert
Auf der anderen Seite erläutert Thielbörger, dass der Ausübung des Selbstverteidigungsrechts selbst strenge rechtliche Grenzen durch das humanitäre Völkerrecht gesetzt sind. Das humanitäre Völkerrecht, das in den sogenannten Genfer Konventionen und Zusatzprotokollen niedergelegt ist, bildet den gesetzlichen Rahmen für bewaffnete Konflikte. Beispielsweise müssen beide Kriegsparteien strikt zwischen Zivilisten und Kombattanten unterscheiden. „Allerdings ist nicht jeder tote Zivilist automatisch eine Verletzung des humanitären Völkerrechts, auch wenn Medien das oft fälschlicherweise so berichten“, stellt Thielbörger klar. Es gelte aber: „Selbst wenn ein eigentlich ziviles Objekt – also ein Wohnhaus, eine Schule oder ein Krankenhaus – militärisch genutzt wird, darf es nur im Ausnahmefall angegriffen werden“, so der Jurist. Unterschiedslose Angriffe, wie etwa Flächenbombardements, bei denen eine Unterscheidung gar nicht möglich ist, sind von vornherein unzulässig. Nach dem humanitären Völkerrecht müssen außerdem beide Seiten – Hamas und Israel – alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen treffen und Schutzräume für die Zivilbevölkerung ermöglichen.
Abschneiden von Lebensmitteln, Wasser und Energie verboten
„Das Abschneiden von Lebensmitteln, Wasser und Energie ist als Kriegshandlung nach dem humanitären Völkerrecht eindeutig verboten“, erklärt Thielbörger. Weniger eindeutig sei das Abschneiden von Treibstoffen, da sie der Hamas einen besonders großen militärischen Vorteil geben.
Abschließend erinnert Pierre Thielbörger daran, dass das Friedensvölkerrecht und das Kriegsvölkerrecht strikt voneinander zu trennen seien. Auch wenn die Hamas klar das Friedensrecht gebrochen und die erneute Zuspitzung des jetzigen Konflikts initiiert habe, seien nun beide Parteien an die gleichen Regeln gebunden. „Die Bindung an das humanitäre Völkerrecht gilt unabhängig von der Frage, ob sich die Gegenseite an das Gewaltverbot oder die Regeln des humanitären Völkerrechts gehalten hat“, so Thielbörger. „Es ist nicht die Reziprozität, die dem humanitären Völkerrecht seine normative Kraft verleiht, sondern das Prinzip der Menschlichkeit, das die Regeln imperativ für sämtliche Konfliktparteien macht. Humanität ist das Gebot der Stunde.“
Über das IFHV
Das Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) ist in Deutschland das führende Institut zur Erforschung bewaffneter Konflikte und humanitärer Krisen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Rechts-, Sozial- und Geowissenschaften sowie aus dem Bereich Öffentliche Gesundheit kooperieren seit über 30 Jahren im IFHV, um zu humanitären Krisen zu forschen.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Prof. Dr. Pierre Thielbörger
Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht
Ruhr-Universität Bochum
E-Mail: pierre.thielboerger@ruhr-uni-bochum.de
Originalpublikation:
Pierre Thielbörger: Auf die Humanität kommt es an, in: Neue Juristische Wochenschrift, 44/2023, Online-Version: https://rsw.beck.de/aktuell/daily/magazin/detail/auf-die-humanitaet-kommt-es-an