Bessere Prävention mit neuem Bundesinstitut, Cholesterin- und Diabetes-Screening? Evidenz statt Aktionismus!
Das EbM-Netzwerk fordert, dass die von der Politik angedachten Maßnahmen auf Basis der bestverfügbaren Evidenz getroffen werden und eine stärkere Berücksichtigung verhältnispräventiver Ansätze sowie eine begleitende Evaluation erfolgen. Unverzichtbar ist, dass das neue Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin (BIPAM) unabhängig und wissenschaftlich arbeitet.
Bereits im Koalitionsvertrag war ein Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit vereinbart worden, um „die Aktivitäten im Public-Health Bereich, die Vernetzung des ÖGD und die Gesundheitskommunikation des Bundes“ zu bündeln. Nun hat das BMG verlautbaren lassen, dass ab 2024 ein „Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin“ (BIPAM) sich um „die Vermeidung nicht übertragbarer Erkrankungen (Krebs, Demenz, KHK) kümmern soll“ [1]. Was dies konkret bedeuten könnte, geht aus einem „Impulspapier“ hervor, in dem vier Handlungsfelder zur Vermeidung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen abgesteckt werden [2]. Diese umfassen unter anderem mehr Früherkennungsuntersuchungen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Durch Einbindung der Apotheken sollen diese Angebote niedrigschwellig verfügbar sein. Das noch zu gründende BIPAM soll dies alles mit Informationsmaterialien begleiten.
Aus Sicht des EbM-Netzwerks gehen die aktuellen Pläne des BMG konzeptionell in eine falsche Richtung und widersprechen der vom EbM-Netzwerk geforderten evidenzbasierten Gesundheitspolitik [3].
Überholter Präventionsansatz
Inhaltlich beruht der Gesamtansatz des BMG ganz auf medizin-naher Verhaltensprävention statt auf bürger-naher Verhältnisprävention. Dabei gilt es als wissenschaftlich gesichert, dass Präventionsprogramme, die das Verhalten der individuellen Bürger*innen ändern wollen, wenig wirksam sind [4] und einen starken sozialen Gradienten aufweisen: Diejenigen, die an individuellen Präventionsmaßnahmen teilnehmen, brauchen diese meist am allerwenigsten. Besser wäre es, die Ressourcen in die Verbesserung der Lebensbedingungen benachteiligter Bevölkerungsgruppen zu investieren, um den Graben zwischen privilegierten und wenig privilegierten Menschen zu verringern. Gesundheit wird nicht allein von dem individuellen Verhalten und der Gesundheitsversorgung bestimmt. Daher müsste das BIPAM auch Kompetenzen in Bereichen wie Soziologie, Bildung, Pflege, Psychologie, Umwelt, Städte- und Verkehrsplanung erhalten. Die Kopplung von Prävention und Medizin im Institutsnamen BIPAM und der von Minister Lauterbach verwendet Begriff „Vorbeugemedizin“ [5] zeugen von einem nicht mehr zeitgemäßen Präventionsansatz [6, 7].
Zweifel an adäquater Aufklärung und informierter Entscheidung
Es ist fragwürdig, wie in einem solch breit aufgestelltem Präventionsprogramm eine adäquate Beratung und Aufklärung gewährleistet werden können. Vor 10 Jahren wurde im Patientenrechtegesetz festgeschrieben, dass auch vor Früherkennungsmaßnahmen transparent, vollständig und verständlich über persönliches Risiko, über möglichen Nutzen und Schaden und über Unsicherheiten informiert werden muss. Die jetzige Planung gemäß BMG-Impulspapier umfasst „multimodale Ansprache“, Informationsmaterialien des BIPAM und niedrigschwellige Angebote in Apotheken. Dies lässt befürchten, dass die Evidenzbasierung in der individuellen Information und Beratung wenig Stellenwert erhalten werden. Alles klingt nach bundesweiten Kampagnen, die das Ziel haben, die Teilnahmeraten zu erhöhen – statt dem Anspruch an informierte Entscheidungen gerecht zu werden.
Public Health braucht politische Unabhängigkeit
Organisatorisch ist es problematisch, das BIPAM als Bundesbehörde direkt an das BMG anzubinden. Wenn das BIPAM dem BMG weisungsgebunden untersteht, ist davon auszugehen, dass politisch opportune, aber wissenschaftlich fragliche Maßnahmen gegenüber politisch unbequemen, aber inhaltlich richtigen Vorschlägen bevorzugt werden. Die auch von Minister Lauterbach immer wieder als wichtig bezeichnete Evidenzbasierung wäre gefährdet. Das EbM-Netzwerk hat wiederholt die politische Abhängigkeit von Bundesinstituten wie dem RKI und der BZgA beklagt. Auch hat sich das EbM-Netzwerk für ein unabhängiges Nationales Gesundheitsportal eingesetzt. Dass dieses nun in einem eigenen Referat des BMG verankert ist, hat bereits zu Einbußen hinsichtlich Qualität und Transparenz der Gesundheitsinformationen geführt. Es wäre daher wichtig, dem BIPAM ausreichende Unabhängigkeit zu gewähren.
Handeln ohne Evidenz
Bereits jetzt lässt sich erahnen, wie sich eine fehlende Evidenzbasierung in der Prävention in Deutschland auswirken wird. Mit den geplanten Früherkennungsmaßnahmen zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen läuft man Gefahr, die Medikalisierung der Gesellschaft zu verstärken, ohne das Ziel der Verbesserung der Gesundheit und einer Verlängerung des Lebens der Menschen zu erreichen.
Das BMG hat mit dem Cholesterin- und Diabetes-Screening gleich zwei Gesundheitsleistungen angekündigt, die wissenschaftlich mehr als fragwürdig sind. Selbst eine umfangreiche Gesundheitsuntersuchung mit Erfassung von Lebensstil, Familienanamnese, EKG, Blutdruck- und Lipidwerten, psychosozialen und weiteren Risikofaktoren erwies sich in einer großen, dänischen randomisierten Studie bei Menschen zwischen 30 und 60 Jahren als nicht wirksam zur Vorbeugung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen [8]. Maßnahmen zur Früherkennung müssen den lang bewährten Wilson-Jungner-Prinzipien entsprechen und Nutzen und Schaden müssen in geeigneten Studien untersucht werden. Eine offizielle Stelle in den USA (die übrigens unabhängig von der Regierung arbeiten darf) bewertete 2023 die Datenlage zum Lipid-Screening bei Kindern und Jugendlichen als unzureichend [9]. Erhöhte Cholesterin-Werte sollen laut US-Empfehlungen frühestens ab einem Alter von 40 behandelt werden [10]. Und ein Diabetes-Screening wird in den USA nur bei Erwachsenen angeraten, die älter als 34 und übergewichtig sind [11]. Will man Früherkennungsmaßnahmen einführen, zu denen es bisher keine aussagekräftigen Studien gibt, so sollte dies zunächst nur temporär im Rahmen einer wissenschaftlichen Evaluation erfolgen [12]. Dass das BIPAM auch die Möglichkeit zur „Unterstützung von Studien“ erhalten soll, ist zu begrüßen. Allerdings deuten die weiteren vom BMG gewählten Begriffe eher auf „epidemiologische Studien“ und die wachsende Rolle der „Modellierer im Gesundheitswesen“ hin, was kaum noch auf valide Evaluation hinweist. Denn hierfür wären randomisiert kontrollierte Studien (RCTs) das notwendige Werkzeug, um schließlich evidenzbasierte Empfehlungen treffen zu können.
Geltendes Recht verlangt systematische Evidenzbewertung
Als Grundprinzip ist im Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) gefordert, dass medizinische Leistungen „dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen“ haben. Dies gilt auch für Früherkennungsleistungen, die neu in die Versorgung eingeführt werden sollen. Die BMG-Initiative zur Einführung von zusätzlichen Screeningtests kommt dagegen anscheinend ohne transparente wissenschaftliche Begründung und ohne systematische Evidenzbewertung aus. Wenn dies Auftrag und Arbeitsweise des BIPAM werden sollen, droht eine zielgruppengerechte Prävention auf der Basis informierter Entscheidungen konterkariert zu werden.
Evaluation generell notwendig
Das BMG plant die Einführung umfassender Maßnahmen im Bereich Prävention und Früherkennung, mit dem Ziel Kosten im Gesundheitswesen zu senken und die Lebenserwartung der Bevölkerung zu erhöhen. Die Umsetzung dieser Maßnahmen greift tief in die Strukturen und das Leistungsgeschehen in der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung ein und wird Kosten generieren. Die Tragweite dieser Maßnahmen verlangt eine begleitende Evaluation mit aussagekräftigen Studiendesigns, um zu prüfen, ob mit den Maßnahmen die angestrebten Ziele für die Gesundheit der Bevölkerung erreicht werden und wie sich Kosten und Nutzen zueinander verhalten. Auch mögliche negative Auswirkungen, z. B. im Sinne einer Über- oder Fehlversorgung oder eines fortbestehenden sozioökonomischen Gradienten, sind zu erfassen, sodass rechtzeitig Richtungskorrekturen vorgenommen werden können.
Quellen:
[1] Bundesministerium für Gesundheit (BMG): Präventions-Institut im Aufbau (2023) https://www.bundesgesundheitsministerium.de/presse/pressemitteilungen/praeventions-institut-im-aufbau-pm-04-10-23
[2] Bundesministerium für Gesundheit (BMG): Impulspapier – Früherkennung und Versorgung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen (2023); https://www.ddf.de.com/wp-content/uploads/2023/10/231005_BMG_Impulspapier_HKE.pdf
[3] Deutsches Netzwerk Evidenz-basierte Medizin: Fünf Forderungen für eine evidenzbasierte Gesundheitspolitik (2021) https://www.ebm-netzwerk.de/de/veroeffentlichungen/pdf/stn-ebm-netzwerk-5_forderungen_an_die_politik-20211119.pdf
[4] Capewell S, Capewell A: An effectiveness hierarchy of preventive interventions: neglected paradigm or self-evident truth? J Public Health (Oxf) 2018; 40: 350-358. https://doi.org/10.1093/pubmed/fdx055
[5] Deutsches Ärzteblatt: Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit soll nächstes Jahr starten (2023) https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/138078/Bundesinstitut-fuer-oeffentliche-Gesundheit-soll-naechstes-Jahr-starten
[6] Deutsche Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) und Deutsche Gesellschaft für Public Health (DGPH): Das geplante Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin (BIPAM): Fachwelt plädiert für dringende Korrekturen (2023) https://www.dgph.info/fileadmin/user_upload/PDF/Paper/PM_10.10.23.fin.pdf
[7] Jørgensen T et al.: Effect of screening and lifestyle counselling on incidence of ischaemic heart disease in general population: Inter99 randomised trial. BMJ 2014: 348: g3617. https://www.bmj.com/content/348/bmj.g3617.long
[8] Deutsche Gesellschaft für Öffentliches Gesundheitswesen (DGÖG): Fachgesellschaft für das öffentliche Gesundheitswesen fordert Gesundheitskonferenzen auf Bundesebene (2023) https://www.dgoeg.de/1031
[9] U.S. Preventive Services Task Force (USPSTF): Lipid Disorders in Children and Adolescents: Screening (2023); https://www.uspreventiveservicestaskforce.org/uspstf/recommendation/lipid-disorders-in-children-screening
[10] U.S. Preventive Services Task Force (USPSTF): Statin Use for the Primary Prevention of Cardiovascular Disease in Adults: Preventive Medication (2022); https://www.uspreventiveservicestaskforce.org/uspstf/recommendation/statin-use-in-adults-preventive-medication
[11] U.S. Preventive Services Task Force (USPSTF): Prediabetes and Type 2 Diabetes: Screening (2021); https://www.uspreventiveservicestaskforce.org/uspstf/recommendation/screening-for-prediabetes-and-type-2-diabetes
[12] Deutsches Netzwerk Evidenz-basierte Medizin: Bessere Forschung für bessere Entscheidungen zur öffentlichen Gesundheit – auch oder gerade unter Pandemiebedingungen! (2022) https://www.ebm-netzwerk.de/de/veroeffentlichungen/pdf/20220322-white_paper-corona_ph_forschung_final.pdf