„Ultradistanz-RadathletInnen zeigen nach mehrtägiger Belastung deutliche Zeichen der Überwässerung“
Erste Pilotstudie zu den Auswirkungen von Ultraradfahren auf Flüssigkeitshaushalt: Dass extremer Ausdauersport wie Ultraradfahren* zu körperlichen Überlastungs-symptomen führen kann, scheint naheliegend. Für den boomenden Rad- und Ultraradsport sind evidenzbasierte Daten bislang jedoch spärlich. In einer Pilot-studie an der Medizinischen Universität Innsbruck wurden erstmals die Auswir-kungen von Ultracycling auf den Elektrolyt- und Flüssigkeitshaushalt und das von Ultra-RadfahrerInnen berichtete Auftreten von Schwellungen an Augenlidern und Extremitäten untersucht.
Innsbruck, am 22.11.2023: Eine mehrtägige Ultradistanz-Radfahrt ist assoziiert mit deutli-chen Zeichen der Überwässerung (Hyperhydratation) und damit verbundener Belastung des Herzens sowie sichtbaren Wassereinlagerungen (Ödemen).
Das ist die zentrale Erkenntnis einer neuen, im Fachjournal Kidney International Reports erschienenen und vom Land Tirol mit einer Technologieförderung von 130.000 Euro un-terstützten Radstudie. Die Bildung von peripheren Ödemen (Schwellungen im Augenbe-reich, sowie an Armen und Beinen) nach überdurchschnittlicher körperlicher Belastung ist ein Phänomen, das bei Ultra-LäuferInnen bereits in Einzelfällen in der Literatur beschrie-ben wurde. Bei Ultradistanz-RadfahrerInnen wurde dieser Zusammenhang nun erstmals von einem interdisziplinären Forschungsteam an der Medizinischen Universität Innsbruck systematisch untersucht.
Ausschlaggebend für den Start der Innsbrucker Pilotstudie im Jahr 2021 waren die per-sönlichen Erfahrungsberichte zweier populärer Ultra-Radsportlerinnen und Wissenschaf-terinnen – Jana Kesenheimer, Psychologin an der Universität Innsbruck und Fiona Kolbin-ger, Chirurgin an der Universitätsklinik Carl Gustav Carus in Dresden –, die von Wasser-einlagerungen an Lidern und Gelenken nach mehrtägigen, ultralangen Radstrecken bei sich selbst überrascht waren. Über ähnliche Symptome berichteten über die Hälfte der knapp 1.000 teilnehmenden Ultra-RadfahrerInnen in einer Fragebogenstudie, die von den ForscherInnen schon im Vorfeld durchgeführt worden war.
Untersuchung „auf Herz und Nieren“
Studienleiter Philipp Gauckler und Andreas Kronbichler – beide Nierenfachärzte forschen an der Innsbrucker Univ.-Klinik für Nephrologie und Hypertensiologie (Direktor: Gert Ma-yer) der Medizinischen Universität Innsbruck und sind selbst Hobby-Radfahrer – luden dafür gemeinsam mit Jana Kesenheimer und Fiona Kolbinger 13 UltraradfahrerInnen aus ganz Europa nach Innsbruck ein. Die SportlerInnen wurden während einer mehrtägigen Rennrad-Tour mit selbstgewählter Streckenlänge von durchschnittlich 1.205 Kilometern und knapp 20.000 Höhenmetern im Zeitraum von 4. bis 11. September 2021 „auf Herz und Nieren“ untersucht.
Die fünf weiblichen und acht männlichen ProbandInnen wurden nach einer umfangreichen Basisdiagnostik vor dem Start an Tag 4 einer Zwischenanalyse unterzogen und in der Erholungsphase sowie zum Abschluss zwölf bis 24 Stunden nach ihrer Ankunft unter-sucht. Laboranalysen von Blut und Urin, bioelektrische Messung der Körperzusammen-setzung und Echokardiographie (EKG) sowie kontinuierlich aufgezeichnete Protokolle der SportlerInnen zur Flüssigkeitsaufnahme und zum Umfang ihrer Extremitäten dienten der Datenerhebung. „Dafür kooperierten wir mit dem Tiroler Start-up Ionsent Technologies Gmbh (vormals UriSalt GmbH), das den Teilnehmern mobile Geräte zur Verfügung stellte, mit denen der Elektrolythaushalt durch eine einfache Urinprobe selbst analysiert werden konnte. Mittels der eigens für die Studie zugeschnittenen Mobil-App des Innsbrucker IT-Unternehmens web-crossing GmbH wurden die Messwerte direkt synchronisiert“, be-schreibt Studienleiter Gauckler den innovativen Ansatz der Studie.
Wirtschaftslandesrat Mario Gerber ergänzt: „Wir verfügen in Tirol über ein ausgezeichne-tes Netzwerk zwischen wissenschaftlichen Einrichtungen, international tätigen Unterneh-men sowie innovativen Start-ups. Die Radstudie, die vonseiten des Landes im Rahmen der Technologieförderung unterstützt wird, ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie Ko-operationen zwischen Wirtschaft und Wissenschaft gelingen können. Nicht zuletzt tragen Projekte wie dieses zur Weiterentwicklung Tirols zu einer Spitzenregion im Bereich Life Sciences bei.“
Wassereinlagerungen auch bei UltraradsportlerInnen
Im Verlauf der Radtour zeigten die TeilnehmerInnen Anzeichen einer Erweiterung des ext-razellulären Flüssigkeitsvolumens ohne relevante Körpergewichtsverluste. Mit steigendem Gesamtkörperwasser und Plasmavolumen veränderte sich jedoch die Körperzusammen-setzung (Wasser, Fett- und Muskelmasse). Ein signifikanter Anstieg des Herzinsuffi-zienzmarkers NT-proBNP sowie eine Volumenzunahme des rechten Vorhofs und der rechten Herzkammer weisen auf eine gleichzeitige Herzvolumenüberlastung hin. Zudem zeigten sich periphere Ödeme im Gesicht und an den Augenlidern sowie Volumenzunah-men an Knöcheln, Handgelenken, Zeigefingern und Oberschenkel. Die detaillierte Analyse der Blut und Harn-Elektrolyte sowie serielle Messungen von Copeptin (Marker für die en-dogene Regulation der Harnkonzentration) lassen sogar erste Vermutungen über zugrun-deliegende Mechanismen für die beobachtete Überwässerung zu. In der Tat scheint eine kontinuierliche Rückaufnahme durch die Niere von Natrium und Flüssigkeit in den Kreis-lauf zumindest eine Rolle zu spielen. „Diese Beobachtungen sind sehr interessant, insbe-sondere in Anbetracht der unter Sportlerinnen und Sportlern verbreiteten Annahme, dass Flüssigkeitsmangel und unzureichende Flüssigkeitsaufnahme beim Ausdauersport das führende Problem seien. Angesichts der geringen Kohortengröße der Pilotstudie sind defi-nitive pathomechanistische Aussagen und Handlungsempfehlungen für den Sport nicht möglich. Weiterführende Studien mit höherer Teilnehmerzahl, insbesondere im echten Rennsetting, sind deshalb in Planung“, schließt Gauckler.
Originalpublikation:
Exercise-Induced Fluid Retention, Cardiac Volume Overload, and Peripheral Edema in Ultra-Distance Cyclists. Philipp Gauckler et al.
https://doi.org/10.1016/j.ekir.2023.10.025