In 3 Tagen das gesamte Erbgut vor Augen
Die „dritte Generation“ der medizinischen Genomsequenzierung beginnt in Innsbruck - Am Institut für Humangenetik der Medizinischen Universität Innsbruck steht der erste und einzige für die genetische Diagnostik verwendbare Long-Read-Sequenzierer Österreichs. Die knapp eine Million Euro teure Maschine erlaubt es, das gesamte Genom eines Menschen binnen kürzester Zeit zu lesen und ermöglicht es damit, Krankheitsursachen zu klären, die bisher als kaum oder gar nicht lösbar galten. Das Gerät ergänzt die von Innsbruck ausgehende Teilnahme Österreichs am Genomprojekt „Genome of Europe“.
Innsbruck, 6. Dezember 2023: Anfang September 2023 wird der Fall eines siebenjährigen Buben aus Südtirol an das Institut für Humangenetik der Medizinischen Universität Innsbruck herangetragen. Das Kind ist in seiner intellektuellen sowie psychomotorischen Entwicklung deutlich verzögert. Die ÄrztInnen und DiagnostikerInnen unter der Leitung von Institutsdirektor Johannes Zschocke führen eine so genannte Trio-Exomanalyse mit der herkömmlichen „Next Generation“ Sequenzierung durch. Dabei werden alle proteinkodierenden Genabschnitte des Kindes mit jenen der Eltern verglichen. „Unsere Analyse zeigte im Bereich des selten als Krankheitsursache beschriebenen AP1S2-Gens eine fragliche Auffälligkeit, die aber aufgrund der Limitierung der bisherigen Analyseverfahren nicht interpretiert werden konnte“, sagt Zschocke. Seit diesem Sommer hat das Institut für Humangenetik jedoch ein neues, revolutionäres Gerät zur Verfügung, wenn die bisherigen Methoden nicht weiterhelfen: Österreichs ersten und bis dato einzigen diagnostisch verwendbaren Sequenzierer der „dritten Generation“.
Das neue Gerät mit dem Handelsnamen „Revio“ liest erstmals verlässlich das ganze Genom für die medizinische Forschung und Diagnostik, sozusagen vom Anfang bis zum Ende aller Chromosomen. Dabei werden auch sehr lange und komplexe Segmente des Erbguts zuverlässig erfasst. Bei der Untersuchung der Erbinformation des jungen Patienten mit der neuen Methodik entdeckten die MedizingenetikerInnen, dass es sich bei der Auffälligkeit um eine Inversion handelt, also die Verdrehung eines großen Chromosomenabschnitts ohne Verlust von Sequenzen. „Man muss sich das so vorstellen als ob in einem Buch zahlreiche Seiten herausgefallen und falsch herum wieder eingeklebt wurden“, erklärt Zschocke. „So eine Veränderung kann ein Gen völlig zerstören, lässt sich aber oft nur schwer nachweisen.“ Eine solche Ursache der ohnehin sehr seltenen AP1S2-abhängigen geistigen Behinderung wurde weltweit noch nie beschrieben. Der Fall des Buben konnte damit gelöst, eine Diagnose gestellt werden. Da die strukturelle Variante bei ihm neu entstanden ist, haben die Eltern Gewissheit, dass sie bei weiteren Kindern diese Variante nicht vererben würden.
Über Nacht das gesamte Genom
„Revio“ wurde von dem US-Unternehmen PacBio entwickelt und kam erst zu Jahresbeginn auf den Markt. Mit allen Zusatzinstallationen hat er knapp eine Million Euro gekostet. „Das Erbgut hat ungefähr 3,1 Milliarden Nukleotide, die genetischen Buchstaben. Bei der seit einigen Jahren üblichen Standardmethode, dem ‚Next Generation Sequencing‘, liest man kleine Schnipsel von 75 bis 150 Nukleotiden und ordnet die erkannten Abschnitte dann den Stellen zu, an denen man sie gemäß der Referenzsequenz* des Genoms vermutet“, sagt Zschocke. Mit dem neuen long-read Verfahren, das auch als „Third Generation Sequencing“ bezeichnet wird, ist es erstmals möglich, das wirklich ganze Genom an einem Stück lesen. Wenn es sehr dringend ist, geht das auch innerhalb von wenigen Tagen nach Eintreffen der Probe. „Die eigentliche Sequenzierung dauert nur etwa 30 Stunden – es gibt quasi über Nacht ein vollständiges Bild von Sequenz, Struktur und Epigenetik des gesamten Erbguts eines Menschen“, schildert Zschocke. Die neue Technologie soll auch für die umfangreichen molekularonkologischen Leistungen des Instituts verwendet werden.
Internationales Konsortium für medizinisches „Third Generation Sequencing“
Es gibt bislang nur wenige Institute weltweit, die das neue Gerät in die medizinische Versorgung einführen. Mit der Anschaffung des Sequenzierers wurde das Institut für Humangenetik der Medizinischen Universität Innsbruck Teil des globalen Konsortiums „HiFi Solves“. Zentren in weltweit zehn Ländern arbeiten gemeinsam an Projekten, um das Gerät in der genetischen Diagnostik einzusetzen. „Es geht darum, Fragen zu beantworten, die wir bisher nicht beantworten konnten, Daten auszutauschen, neue Verfahren zu etablieren und gemeinsam die Möglichkeiten des Geräts auszuloten“, erklärt Zschocke. Denn auch wenn „Revio“ viele neue Lösungswege eröffnet, die Herausforderung, die enormen Datensätze auszuwerten und für jede Patientin und jeden Patienten zu interpretieren, bleibt bestehen.
„Genome of Europe“ Projekt
„Revio“ ergänzt das in Vorbereitung befindliche umfassende österreichische Genomprojekt, welches mit Unterstützung von Christine Bandtlow, Vizerektorin für Forschung und Internationales an der Med Uni Innsbruck auf den Weg gebracht wurde. Zunächst geht es um die Teilnahme der drei österreichischen Medizinischen Universitäten und dem CeMM Research Center for Molecular Medicine in Wien am „Genome of Europe“-Projekt im Rahmen der europäischen „1+ Million Genome Initiative“, welche vom hiesigen Institut für Humangenetik initiiert, koordiniert und federführend durchgeführt werden soll. Mit diesem Projekt, an dem alle EU-Staaten, Großbritannien und Norwegen teilnehmen, soll eine umfangreiche klinische Genom-Datenbank geschaffen werden, die es künftig ermöglicht, medizinische Forschung zu erleichtern und den Anspruch einer zunehmend personalisierten Medizin mit zielgerichteten Therapien umzusetzen. „Derzeit liegt der Antrag bei der EU. Das Institut für Humangenetik in Innsbruck ist eines der größten im deutschsprachigen Raum. In den vergangenen 15 Jahren wurden pro Jahr durchschnittlich eine bis zwei seltene Erkrankungen identifiziert und charakterisiert. Die neuen Perspektiven und Verfahren, die uns der Long-Read-Sequenzierer ermöglicht, werden uns dabei unterstützen, den Standort Innsbruck weiter zu stärken und im internationalen Umfeld noch besser zu verankern“, erklärt Vizerektorin Bandtlow.
*Referenzgenom: Das Referenzgenom repräsentiert eine prototypische Abfolge des Erbguts eines Menschen. An diesem Modell werden andere Genome verglichen, um Unterschiede, Varianten und Erkrankungen abzuklären.
Details zur Medizinischen Universität Innsbruck
Die Medizinische Universität Innsbruck mit ihren rund 2.200 MitarbeiterInnen und ca. 3.400 Studierenden ist gemeinsam mit der Universität Innsbruck die größte Bildungs- und Forschungseinrichtung in Westösterreich und versteht sich als Landesuniversität für Tirol, Vorarlberg, Südtirol und Liechtenstein. An der Medizinischen Universität Innsbruck werden folgende Studienrichtungen angeboten: Humanmedizin und Zahnmedizin als Grundlage einer akademischen medizinischen Ausbildung und das PhD-Studium (Doktorat) als postgraduale Vertiefung des wissenschaftlichen Arbeitens. An das Studium der Human- oder Zahnmedizin kann außerdem der berufsbegleitende Clinical PhD angeschlossen werden.
Seit Herbst 2011 bietet die Medizinische Universität Innsbruck exklusiv in Österreich das Bachelorstudium „Molekulare Medizin“ an. Ab dem Wintersemester 2014/15 kann als weiterführende Ausbildung das Masterstudium „Molekulare Medizin“ absolviert werden. Seit Herbst 2022 bieten die Medizinische Universität Innsbruck und die Leopold-Franzens-Universität Innsbruck gemeinsam ein englischsprachiges Masterstudium „Pharmaceutical Sciences“ an, in dem die Studierenden eine fundierte Ausbildung im Bereich der Arzneimittelentwicklung erwerben können.
Die Medizinische Universität Innsbruck ist in zahlreiche internationale Bildungs- und Forschungsprogramme sowie Netzwerke eingebunden. Schwerpunkte der Forschung liegen in den Bereichen Onkologie, Neurowissenschaften, Genetik, Epigenetik und Genomik sowie Infektiologie, Immunologie & Organ- und Gewebeersatz. Die wissenschaftliche Forschung an der Medizinischen Universität Innsbruck ist im hochkompetitiven Bereich der Forschungsförderung sowohl national auch international sehr erfolgreich.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Univ.-Prof. Dr. med. Johannes Zschocke Ph.D.
Institut für Humangenetik
Tel1.: +43 512 9003 70500
E-Mail: Johannes.Zschocke@i-med.ac.at
Weitere Informationen:
https://www.i-med.ac.at/humgen/ Institut für Humangenetik an der Med Uni Innsbruck
https://digital-strategy.ec.europa.eu/de/policies/1-million-genomes Europäische Initiative "1+ Million Genome"