Was, wenn der Staat sich zurückzieht? Uni Osnabrück startet Studie
Zahlreiche von inneren Konflikten betroffene Staaten versuchen, durch die Ausdehnung von Staatlichkeit ihre Legitimation wiederherzustellen. In Ausnahmefällen kann es jedoch vorkommen, dass ein Staat systematisch und geregelt Befugnisse abgibt. Bei dieser sogenannten „Devolution“ delegieren sie Kernfunktionen des Staates an kommunale Institutionen, die ihre Legitimität auf lokalen Traditionen begründen. Doch wie wirkt sich die Übertragung staatlicher Funktionen auf die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in Gebieten aus, die durch tradiertes Gewohnheitsrecht geregelt werden? Ein neues Projekt an der Uni Osnabrück sucht nach Antworten auf diese Frage am Beispiel Mexikos.
Zum Hintergrund: Für weite Teile der Weltbevölkerung haben sich die Versprechen des „Weberianischen“ Staates, also eines Staates mit einem klar definierten Gewaltmonopol und einer umfassenden funktionierenden Bürokratie, nicht erfüllt. Sie leben stattdessen in einem Umfeld, in dem der Staat kein Gewaltmonopol aufrechterhalten kann – etwa, weil formelle staatliche Institutionen fehlen, weil sie korrupt sind oder selbst zur Unsicherheit beitragen. So wenden sich in einigen der unsichersten Gebiete weltweit Staaten und Bürger alternativen Lösungen zu: In Somalia übernehmen Clan-basierte Systeme der Konfliktbearbeitung die Aufrechterhaltung der Ordnung. Angesichts der Schwäche des afghanischen Zentralstaates sorgen traditionelle Räte und Stammesmilizen für Sicherheit in ländlichen Gebieten. Konfrontiert mit exzessiver krimineller Gewalt haben Gemeinden im Süden Mexikos von ihrem Recht Gebrauch gemacht, formelle staatliche Institutionen durch traditionelle Systeme der Regierungsführung zu ersetzen.
„Dennoch bleiben akademische und politische Debatten über „fragile“ Kontexte weitgehend staatszentriert, sehen die Abwesenheit des Staates als Quelle von Gewalt und seine Ausweitung als die vielversprechendste Lösung“, erklärt der Osnabrücker Politikwissenschaftler Prof. Dr. Alexander De Juan, der das Forschungsprojekt leitet.
Im Rahmen des Projektes soll mithilfe qualitativer und quantitativer Analysen am Beispiel Mexikos untersucht werden, welche Auswirkungen die Übertragung staatlicher Funktionen auf traditionelle Institutionen mit sich bringen. „Die inhaltliche räumlich-zeitliche Varianz struktureller Bedingungen und rechtlicher Bestimmungen ermöglicht es uns zudem, die Rolle des Kontextes und spezifischer Merkmale einer solchen Devolution zu untersuchen“, so Prof. De Juan. Dabei basieren die Analysen auf einer internationalen Kooperation mit der Stanford University und vier „Interkulturellen Universitäten“ in Mexiko. Ziel sei es, das Verständnis der Dynamik und Wirkung unterschiedlicher institutioneller Konfigurationen in Kontexten von Unsicherheit zu erweitern sowie Hinweise auf friedensfördernde Strategien jenseits des vorherrschenden staatszentrierten Paradigmas erhalten. Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Projekt soll bis Februar 2027 abgeschlossen sein.
Weitere Informationen für die Redaktionen:
Prof. Dr. Alexander De Juan, Universität Osnabrück
Institut für Sozialwissenschaften
E-Mail: alexander.dejuan@uos.de