Die verletzte Stadt – Bewohner*innen berichten in einem Online-Dossier vom Angriff auf ihre Stadt Charkiw
Die ukrainische NGO „Young Kharkiv“, eine Gruppe von Historiker*innen, interviewte in den ersten Monaten des russischen Angriffs Bewohner*innen der ukrainischen Stadt Charkiw. Die Interviews sind wertvolle Quellen für eine Erfahrungs- und Gefühlsgeschichte des Kriegsanfangs. Einwohner*innen berichten darin vom Schock des Moments, aber auch von Solidarität und der Hoffnung auf den Sieg. Das GWZO in Leipzig und das am Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft angesiedelte Transferportal Copernico in Marburg veröffentlichen eine Auswahl dieser Zeitzeug*innenvideos nun in einem Online-Themenschwerpunkt.
Kurz nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine musste die Historikerin und Oral-History-Spezialistin Svitlana Telukha, PhD von Charkiw nach Leipzig fliehen. Hier lernte sie die Direktorin des GWZO, Prof. Dr. Maren Röger, kennen und begleitete sie in eines ihrer Seminare, um dort von den ersten Tagen des Krieges zu berichten. Zum Seminar brachte sie Videointerviews aus Charkiw mit, in denen Charkiwer*innen vom Vorabend des Krieges, ihrer unmittelbaren Reaktion auf den Angriff und dem schockartigen Abbruch des Alltags berichten. Daraus entstand die Idee, gemeinsam mit dem Transferportal Copernico diese eindrucksvollen Interviews zu veröffentlichen.
Im Zentrum des so entstandenen Themenschwerpunkts stehen 11 leitfadengestützte Interviews mit Charkiwer*innen, die nach Ausbruch des Krieges in der Stadt geblieben sind. Gefragt wird beispielsweise, wie die Interviewten den Anfang des Krieges erlebten und wie sie Notfallgepäck vorbereiteten. Die Interviewer*innen fragen nach der Flucht, nach Überlebensstrategien unter den Bedingungen des Krieges und nach ihren Plänen für einen möglichen Neuanfang nach dem erhofften Sieg der Ukraine. Von jedem Interview gibt es zwei Varianten: einen kurzen Zusammenschnitt, der einen konzentrierten Einblick in die Erzählung der Interviewten gibt, und die ungekürzte Langversion der Interviews. Gerahmt werden ihre Berichte von einführenden Texten von Young Kharkiv und einem Beitrag von der ukrainischen Historikerin Iryna Skyrda, in dem sie berichtet, wie die Stadt sich verändert hat. Darüber hinaus gibt Dr. Mikhail Ilchenko, ein am GWZO ansässiger Experte für Stadtgeschichte im östlichen Europa, einen profunden Einblick in das Charkiw der 1920er und 1930er Jahre. Dorothee Riese, eine der Mitherausgeberinnen des Schwerpunkts, sagt: „Der Online-Themenschwerpunkt Die verletzte Stadt bedeutet für die Charkiwer*innen neue Hoffnung, denn es war ihr drängendes Anliegen festzuhalten, was sie durch den Krieg verloren haben und täglich verlieren: ihr selbstverständliches Miteinander in einer friedlichen Stadt. Leider sind die Interviewten und Projektinitiator*innen jetzt zermürbt und würden anders, bitterer über den Krieg sprechen.“ | https://www.copernico.eu/de/charkiw-die-verletzte-stadt
Am 12. März um 17:30 Uhr wird es eine Online-Präsentation mit den Herausgeber*innen und Mitgliedern von Young Kharkiv geben. Die Initiator*innen des Projekts berichten von ihrer Arbeit, die Präsentation wird auf Deutsch und Ukrainisch mit Übersetzung erfolgen. Sprechen werden unter anderem Prof. Dr. Peter Haslinger, Direktor des Herder-Instituts und Prof. Dr. Maren Röger, Direktorin des GWZO. | https://eu01web.zoom.us/meeting/register/u5clc-6grDgpGdEEFRfn_DLMb25U1Fae5Iml
Dorothee Riese, M.A. (GWZO), Svitlana Telukha, PhD (Stipendiatin der Philipp Schwartz-Initiative am GWZO) und Dr. Antje Johanning-Radžienė (Copernico) übernahmen die Herausgabe des Themenschwerpunkts. Dabei arbeiteten sie eng mit Svitlana Telukhas Kolleg*innen von Young Kharkiv zusammen. Der Themenschwerpunkt bildet das Anliegen der NGO ab, das Gedächtnis ihrer Stadt digital zu archivieren und zu bewahren sowie einer internationalen (Fach)Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das Projekt soll einen Beitrag zur Sozialgeschichte und Anthropologie leisten. Besonders beschäftigt es sich mit Alltagsgeschichte im Krieg, mit der Erfahrung des Überlebens in Extremsituationen und mit erzwungener Migration. Das Projekt wird gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM).
Copernico | Geschichte und kulturelles Erbe im östlichen Europa
Copernico ist das neue Transferportal für Geschichte und kulturelles Erbe im östlichen Europa. Betrieben wird es vom Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg, einem Institut der Leibniz-Gemeinschaft. Mit einem Recherchemodul und einem Themenmagazin macht es Forschung sichtbar und eröffnet neue Wege für die Bewahrung und Vermittlung des kulturellen Erbes. Zahlreiche Einrichtungen aus den Bereichen Wissenschaft und Kulturerbevermittlung informieren über die gemeinsame Geschichte und das geteilte kulturelle Erbe im östlichen Europa — attraktiv und wissenschaftlich fundiert. | www.copernico.eu
Das GWZO
Das Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) erforscht historische und kulturelle Entwicklungsprozesse in der Region zwischen Ostsee, Schwarzem Meer und Adria. Grundlegend für das GWZO sind der breite zeitliche Rahmen seiner epochenübergreifenden Forschungen, der am Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalter ansetzt und bis in die Gegenwart reicht, sowie die ausgeprägte Interdisziplinarität. In der Grundlagenforschung des GWZO werden Methoden und Konzepte aus den Disziplinen und Fächern der Archäologie, Mediävistik, Literaturwissenschaft, der Osteuropastudien, der Geschichtswissenschaft, der Kunstgeschichte und Architekturgeschichte als auch der interdisziplinären Kulturwissenschaften miteinander verknüpft. Es kommen zudem naturwissenschaftliche Ansätze zum Tragen. Sein konstant breites Fächerspektrum bildet ein Alleinstellungsmerkmal des GWZO, nicht nur im Hinblick auf Deutschland, sondern auch im weltweiten internationalen Vergleich. Es trägt universitäts-komplementär damit zu einem elaborierten Verständnis der historischen und heutigen Entwicklungen in den Staaten, Gesellschaften und Kulturen des östlichen Europas bei. Das Institut ist eng mit der Universität Leipzig verbunden. Es gibt gemeinsame Berufungen und eine enge Zusammenarbeit in Forschung, Lehre und Karriereausbildung. Vielfältige Kooperationsbeziehungen bestehen ebenfalls mit zahlreichen wissenschaftlichen Einrichtungen im östlichen Europa. | www.leibniz-gwzo.de
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Dorothee Riese, M.A.
Direktionsreferentin, GWZO
dorothee.riese@leibniz-gwzo.de
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Dr. Antje Johanning-Radžienė
Koordinatorin des Projekts Copernico
antje.johanning@herder-institut.de
Originalpublikation:
https://leibniz-gwzo.de/sites/default/files/dateien/PM_24_1_0.pdf
Weitere Informationen:
https://www.copernico.eu/de/charkiw-die-verletzte-stadt