Soziale Auswirkungen des Klimawandels – Forschender Flugverweigerer setzt Arbeit an der Universität Passau fort
Wie wirken sich Marktintegration und Klimawandel auf den sozialen Zusammenhalt aus? Dieser Frage geht Dr. Gianluca Grimalda, der als forschender Flugverweigerer bekannt geworden ist, in Feldexperimenten in Papua-Neuguinea nach. Er hat ein Stipendium am Passau International Centre for Advanced Interdisciplinary Studies (PICAIS) erhalten, wo er die Daten analysieren wird, die er während seiner Feldforschung gesammelten hat.
Macht Marktintegration die Menschen egoistischer? "Wenn man diese Frage den Leuten auf der Straße stellt, würden 99 Prozent diese bejahen. Aber in der Anthropologie sagen viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Gegenteil", sagt Dr. Gianluca Grimalda, ein Sozialwissenschaftler, der die sozialen Auswirkungen des Klimawandels untersucht. Seine experimentellen Studien auf der Insel Bougainville vor der Küste von Papua-Neuguinea zeichnen ein komplexeres Bild. In einem Dorf ganz in der Nähe einer Marktstadt fand er zu seiner Überraschung Menschen, die sich sehr kooperativ zeigten und am ehesten bereit waren, in Experimenten gleich zu teilen.
Dr. Grimalda ist für seine Flugverweigerung bekannt geworden, die letztlich einer der Gründe war, die ihn seine Position als leitender Forscher am Kieler Institut für Weltwirtschaft kosteten. Seine Geschichte erregte nationales und internationales Medieninteresse. Das nahmen Dr. Katharina Werner und Professor Graf Lambsdorff von der Universität Passau zum Anlass, ihn als wissenschaftlichen Mitarbeiter an das PICAIS einzuladen.
Dr. Werner, die als Senior Researcher am Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie tätig ist, und Dr. Grimalda teilen ein Forschungsinteresse an experimenteller Ökonomie und haben sich bereits auf verschiedenen internationalen Konferenzen getroffen. "Wir freuen uns, dass Dr. Grimalda ein halbes Jahr in Passau forschen wird, denn sein Forschungsansatz passt hervorragend zu den experimentellen und verhaltensökonomischen Schwerpunkten meines Lehrstuhls", sagt Professor Graf Lambsdorff.
Während seines Forschungsaufenthalts wird Dr. Grimalda mit Hilfe von Dr. Werner die Daten auswerten, die er während seiner jüngsten Feldstudien auf der Insel Bougainville gesammelt hat. Sein Ziel ist es, herauszufinden, ob und wie die Auswirkungen des Klimawandels frühere Erkenntnisse über den sozialen Zusammenhalt verändert haben könnten. "Die Menschen auf Bougainville haben aufgrund längerer Dürreperioden begonnen, unter Nahrungsmittelknappheit zu leiden. Mancherorts haben sie mir erzählt, dass sie bestimmte Lebensmittel nicht mehr anbauen können. Das ist besorgniserregend."
Über das Passau International Centre for Advanced Interdisciplinary Studies (PICAIS)
Für sein Forschungsprojekt hat Dr. Grimalda ein Stipendium am Passau International Centre for Advanced Interdisciplinary Studies (PICAIS) erhalten. Es handelt sich dabei um die zentrale Plattform für interdisziplinäre Forschung und Vernetzung für Gastwissenschaftlerinnen und Gastwissenschaftler aus dem In- und Ausland an der Universität Passau. PICAIS fördert interdisziplinäre Forschung, die sich an den strategischen Schwerpunktthemen der Universität Passau - Digitalisierung, Europa und Nachhaltigkeit - orientiert. Das Stipendienprogramm richtet sich an international herausragende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie an vielversprechende Nachwuchswissen-schaftlerinnen und -wissenschaftler. Während ihrer Zeit bei PICAIS können sich die Stipendiatinnen und Stipendiaten voll und ganz auf ihr Forschungsprojekt konzentrieren - abseits der Anforderungen des akademischen Alltags. Die Ausschreibungen für das PICAIS Research-in-Residence-Fellowship sind derzeit offen.
Vier Fragen an Dr. Grimalda zu seiner Forschung:
Wie messen Sie den Faktor Marktintegration in Ihrer Feldforschung?
"Wir fragen die Menschen zum Beispiel nach ihrer Ernährung. Wie viele Kalorien stammen aus Lebensmitteln, die sie auf dem Markt kaufen? Und wie viele stammen aus Lebensmitteln, die sie in ihrem Garten anbauen? Tatsächlich haben mein Team und ich 1800 Menschen dazu befragt, was sie gestern und vergangene Woche gegessen haben. Eine meiner Aufgaben hier in Passau wird es sein, dies zu analysieren und aus den Kalorien die Marktintegration abzuleiten. Ein weiterer Indikator ist, wie nah die Menschen am Markt wohnen, wie lange der Weg dorthin dauert und wie viel Geld er kostet. Wir untersuchen auch, wie viel ihres Einkommens aus dem Verkauf ihrer Produkte auf internationalen Märkten stammt. In Bougainville zum Beispiel, wo ich meine Forschung durchgeführt habe, verkaufen die Menschen Kokosnussöl auf internationalen Märkten. Während unserer Forschung im Jahr 2019 konnten wir zeigen, dass vor allem die Verbindung zum internationalen Markt für den sozialen Zusammenhalt von Bedeutung ist. In einigen Dörfern begannen wir, Ungleichheit und Toleranz gegenüber Ungleichheit zu beobachten. Und das wollten wir uns genauer ansehen."
Wie haben Sie das gemacht?
"Wir arbeiten mit Methoden der experimentellen Ökonomie. Das bedeutet, dass wir die Menschen in Spiele verwickeln. In den Dörfern auf Bougainville haben wir ein Geschicklichkeitsspiel zwischen jeweils zwei Personen gespielt. Sie mussten Ringe in einen Eimer werfen. Damit konnten sie insgesamt 24 Kina verdienen, das ist die Landeswährung in Papua-Neuguinea. Der 'Gewinner' würde 20 Kina erhalten und der 'Verlierer' 4 Kina. Und dann fragten wir sie, wie sie die 24 Kina unter sich aufteilen würden. Das war unser Maßstab für Prosozialität, für die Bereitschaft, einander zu helfen. Sie wussten nicht, mit wem sie es zu tun hatten. Sie wussten, dass es entweder eine Person aus dem Dorf oder aus einem anderen, weit entfernten Dorf sein könnte. In einigen Dörfern entschieden sich viele Menschen dafür, den Betrag gleich aufzuteilen. In anderen Dörfern stellten wir fest, dass die Person, die mehr Ringe in den Eimer warf, einen größeren Anteil an den 24 Kinas haben wollte. Und in wieder anderen Dörfern, in zwei Orten in der Nähe des Marktes, fanden wir sehr egoistische Menschen. Aber in unseren neuen Daten zeigt sich nicht mehr ein so klares Bild."
Was hat sich verändert? Haben Sie ein Beispiel?
"Wir haben in einigen Dörfern, auch in der Nähe der Marktstadt, sehr kooperative Menschen angetroffen, die sehr bereit waren zu teilen. Sie fragen nach einem Beispiel - ich war besonders fasziniert von einem Dorf, das ganz in der Nähe lag, nur vier Minuten mit dem Auto entfernt, und angebunden war mit einer sehr guten Straße. Aufgrund meiner früheren Studien hatte ich erwartet, dass die Menschen relativ egoistisch sein würden. Stattdessen waren sie sehr kooperativ, sie teilten am ehesten gleichmäßig, ebenso in unserer zweiten Forschungsreihe. Deshalb wollte ich mehr über sie erfahren. Sie erzählten mir, dass sie ein kooperatives Unternehmen hatten, an dem viele Menschen in der Gemeinde beteiligt waren, um Fisch zu verkaufen. Die Leute gingen fischen, verkauften den Fisch auf dem Markt und alle Einnahmen wurden gleichmäßig unter der Gemeinschaft aufgeteilt. Es ergab also Sinn, dass die Menschen in unserem Spiel so kooperativ waren, denn sie waren es ja auch im wirklichen Leben."
Was ist mit dem Konzept des Homo oeconomicus? Wie passt das in diese Theorie?
"Die Methodik der experimentellen Ökonomie hat dazu beigetragen, dieses Konzept zu zerstören und herauszufinden, dass sich glücklicherweise nur eine Minderheit der Menschen im wirklichen Leben wie ein Homo oeconomicus verhalten. In unseren Spielen finden wir normalerweise nur ein Drittel der Teilnehmenden, die sich so verhalten. In strategischen Spielen, in die auch Vorstellungen über das Verhalten der anderen einfließen, sogenannte Vertrauensspiele, können die Annahmen eines Homo oeconomicus in Kombination damit, dass sich andere Leute auch so verhalten würden, lediglich fünf Prozent des Verhaltens erklären. Die meisten Menschen haben soziale Normen und solche der Fairness. Natürlich könnte man argumentieren, dass es einfacher ist, zu anderen Menschen nett zu sein, wenn wenig Geld vorhanden ist. Aber auch wenn es viel Geld gibt, zeigen Experimente, dass die Menschen nicht völlig egoistisch sind. In der Forschung sprechen wir gerne von "Homo reciprocans". Wenn ich von meinen Mitmenschen erwarte, dass sie nett zu mir sind, bin ich es auch zu ihnen. Das scheint unserer Psychologie näher zu sein als die Psychologie eines Homo oeconomicus. Und das ist auch das, was ich auf meiner Reise gelernt habe: Ich sehe eine große Bereitschaft, anderen zu helfen, in dem Fall mir. Auf meiner Reise habe ich mindestens 50 Menschen getroffen, die ihre Zeit und manchmal sogar ihr Geld geopfert haben, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, nur weil sie helfen wollten. Allerdings ist es in vielen Situationen so, dass wir nicht besonders gut zusammenarbeiten. Der Klimawandel ist wahrscheinlich das schwierigste Kooperationsproblem, weil 8 Milliarden Menschen mit sehr unterschiedlichen kulturellen Hintergründen betroffen sind. Auf internationaler Ebene mit vielen verschiedenen Kulturen beobachten wir sehr wenig Zusammenarbeit."
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Prof. Dr. Johann Graf Lambsdorff
Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Wirtschaftstheorie
Innstraße 27
94032 Passau, Germany
mail: Johann.GrafLambsdorff@Uni-Passau.De
Weitere Informationen:
https://www.picais.uni-passau.de/en/funding-programmes/research-in-residence-fellowships Ausschreibung für Research-in-Residence-Fellowship (Englisch)
https://www.digital.uni-passau.de/beitraege/2024/picais-stipendiat-grimalda Interview mit Dr. Gianluca Grimalda im Digitalen Forschungsmagazin der Universität Passau