Ein Jahrhundert im Dornröschenschlaf: NHM-Insektenforscherin entdeckt Netzflügler-Art nach 100 Jahren wieder
Für diejenigen, die häufig Zeit in Garten oder Natur verbringen ist die auffällig grüne Florfliege meist keine Unbekannte. Ihre Larven sind große Feinde der Blattläuse. Weniger bekannt ist die grazile Ameisenjungfer, mit deren Larven – den sogenannten Ameisenlöwen. Diese lauern in selbstgebauten Sandfallen. Nähert sich ein Beutetier, bewirft es der Ameisenlöwe mit Sand. Sie gehören zur Insektengruppe der Netzflügler. Weltweit gibt es zirka 5.500 Arten, in Mitteleuropa zirka 120.
Doch unter den Netzflüglern finden sich auch weniger bekannte Vertreter. Dazu gehört beispielsweise die Familie der Nevrorthidae mit der Art Nevrorthus apatelios. Dr. Susanne Randolf, Insekten-Forscherin im Naturhistorischen Museum Wien, ist besonders fasziniert von diesen unscheinbaren, hellbraunen Tierchen.
Im Jahr 1929 konnte ein Vorgänger von Randolf, der damalige Kustos des Naturhistorischen Museums Wien, Dr. Hans Zerny, auf seiner Reise nach Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Dalmatien ein einzelnes erwachsenes Männchen von N. apatelios sammeln. Seit damals gab es keine belegte Sichtung mehr.
2022 nahmen mehrere Wissenschaftler*innen aus dem NHM Wien (darunter Mag. Michaela Brojer, Dr. Elisabeth Haring und Dr. Michael Duda) an der Neretva Wissenschaftswoche im Rahmen der „Save the Blue Heart of Europe“-Kampagne teil. Die Woche wird jedes Jahr von Riverwatch, EuroNatur, Center for Environment und ACT Foundation (beide Bosnien und Herzegowina) sowie die Manfred-Hermsen-Stiftung organisiert.
Ein bunt gemischtes Team von 48 Forscher*innen aus 7 Ländern versammelte sich in der kleinen Stadt Ulog (Bosnien-Herzegowina), um einen Beitrag zur Erhaltung des Neretva-Flusses zu leisten. Der Fluss ist 230 km lang, fließt durch Bosnien und Herzegowina, bevor er an der kroatischen Küste in die Adria mündet.
Die Wissenschaftler*innen sammelten Daten zur Charakterisierung dieses unberührten und stark bedrohten Flussökosystems. Sie konzentrierten sich auf die Beschreibung von Aspekten der mit dem Fluss verbundenen biologischen Vielfalt, indem sie ihre Fachkenntnisse über verschiedene aquatische und terrestrische Pflanzen- und Tiergruppen kombinierten. Außerdem untersuchten sie die Umweltbedingungen, die diese Artenvielfalt begünstigen, sowie eine Reihe von Ökosystemfunktionen.
Susanne Randolf konnte im NHM Wien aus dem gesammelten Material nun zwei Larven von N. apatelios nachweisen und in einer Publikation präsentieren. „Sie bestätigen das Vorkommen der Art in Bosnien und Herzegowina, erstmals nach fast 100 Jahren!“, sagt die Expertin für Netzflügler und Erstautorin des Artikels.
Der Lebenszyklus der Art ist amphibisch, teilt sich also auf Land und Wasser auf. Erwachsene Tiere findet man in der Nähe von Gewässern auf überhängenden Ästen von Laubbäumen und in Büschen. Dort suchen sie nach Blattlausausscheidungen - sogenanntem Honigtau - ihrer Nahrung. Sie werden selten gefangen und sind auch bei gezielter Suche schwer zu finden.
Als Larven leben sie im Wasser und sind räuberisch mit giftbewehrten Saugzangen. Sie sind sehr schlank und lang, haben lange Borsten und schlängeln sich blitzschnell vor- und rückwärts durch die Lücken zwischen Kies und grobem Sand auf der Suche nach Beutetieren. Was die Wassertemperatur betrifft, sind sie anspruchslos, leben jedoch nur in sauberen, sauerstoffreichen Gewässern und sind daher ein guter Anzeiger für besonders hohe Wassergüte.
Der Lebensraum, in dem die Larven der Nevrorthidae vorkommen, ist auf ganzjährige, nicht austrocknende Fließgewässer mit von Kies geprägtem Flussbett, größeren Blöcken und grobem Sand in Gebieten mit intakter natürlicher Vegetation angewiesen.
Auf der Balkanhalbinsel gibt es solche Flüsse noch, die durch nahezu unberührte Landschaften fließen. Diese Ökosysteme haben die letzten Jahrzehnte der Eingriffe der Menschen in die Natur überstanden, die die Flüsse im größten Teil des europäischen Kontinents und darüber hinaus stark in Mitleidenschaft gezogen haben. Die Flüsse des Balkans sind jedoch heute auch in Gefahr, denn dort sind derzeit mehr als 3.500 Wasserkraftwerke geplant, deren Bau große Veränderungen und Lebensraumverluste für tierische Flussbewohner mit sich bringen würde. Der Fund der so seltenen N. apatelios Larven unterstreicht die Wichtigkeit, dieses kostbare Naturerbe auch in Zukunft zu bewahren.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Dr. Susanne Randolf
2. Zoologische Abteilung des NHM Wien
https://www.nhm-wien.ac.at/susanne_randolf
Tel.: + 43 (1) 521 77 – 345
susanne.randolf@nhm-wien.ac.at
Weitere Informationen:
https://www.nhm-wien.ac.at/presse/pressemitteilungen2024/netzfluegler
https://journals.uni-lj.si/NaturaSloveniae/article/view/17222/15294
https://balkanrivers.net/de/neretva-wissenschaftswoche
https://balkanrivers.net/de/news/vorlaufiger-bericht-der-neretva-wissenschaftswoche