„Spirit of the ANIM 2024“ – Größter europäischer Kongress zur NeuroIntensiv- und Notfallmedizin in Kassel
Bei der ANIM 2024, der Arbeitstagung NeuroIntensivMedizin, kamen im Kongress-Palais Kassel knapp 1000 Teilnehmende in 35 wissenschaftlichen Symposien sowie praxisorientierten Workshops und Fortbildungskursen zusammen. Drei Tage lang diskutierten renommierte Experten aktuelle Entwicklungen auf der gemeinsamen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für NeuroIntensiv- und Notfallmedizin (DGNI) und der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft (DSG).
„Neue Erkenntnisse, guten Austausch, viele Begegnungen und ganz viel Spass“ wünschte Tagungspräsident Prof. Dr. Julian Bösel bei der Kongresseröffnung. Sein Resümee nach drei Tagen: „Die ANIM hat ihren Charakter als echte „Arbeits“tagung und Begegnungsplattform zurückgewonnen, worüber ich mich sehr freue!” Grundlage für viele interdisziplinäre Diskussionen in bis zu 7 parallelen Sessions waren die Themenschwerpunkte schwerer ischämischer Schlaganfall, Bewusstseinsstörung, Neuro-Notfallmedizin, Wirkung von Pflege und Therapie in der NeuroIntensivmedizin sowie Translationale NeuroIntensivmedizin.
Ein sehr abwechslungsreiches Hauptprogramm mit einer „rekordverdächtigen Einreichung von wissenschaftlichen Beiträgen” begeisterte die Teilnehmer. Auswirkungen auf die klinische Praxis sowie weltweite Standards in der NeuroIntensivmedizin wurden interdisziplinär diskutiert. Prof. Dr. Thomas Westermaier, Präsident der DGNI, fasste die besondere Melange des hochkarätigen Fachkongresses für die nationalen und internationalen Teilnehmer so zusammen: „We are happy to have the Spirit of the ANIM back!“
DGNI und NCS: Pre-Conference-Meeting und 3. Joint Meeting
Zum ersten Mal fand schon vor Kongressbeginn ein Arbeitstreffen mit VertreterInnen der NeuroIntensivmedizin aus verschiedenen Europäischen Ländern zum Thema Standards für NeuroIntensivmedizin in Europa statt. In einem hybriden Meeting wurden erste Schritte zur Bestimmung von „Standards of Neurocritical Care“ zu Krankenhausstrukturen, Ressourcen der Intensivstation, Personalausstattung sowie diagnostische und therapeutische Möglichkeiten zusammengefasst.
Das inzwischen 3. Joint Meeting von DGNI und der US-amerikanischen, global agierenden Neurocritical Care Society (NCS), das sich über den gesamten Kongress erstreckte, war wieder ein großer Erfolg. Sowohl das Pre-Conference Projekt als auch das Joint Meeting mit der mit der US-amerikanischen, global agierenden Neurocritical Care Society NCS wurden von Dr. Katja E. Wartenberg, Leipzig, koordiniert. Renommierte Redner, Moderatoren und Mitglieder der weltweit wichtigsten Fachgesellschaft für diesen Bereich kamen nach Kassel, um sich mit den Teilnehmern der ANIM in unkomplizierter Atmosphäre auszutauschen. Neuro-Notfälle aus verschiedenen internationalen Perspektiven, Vergleiche von Managementunterschieden und logistische Fragestellungen boten wieder neue Anregungen und Inspirationen.
Für eine aufgelockerte Stimmung sorgte die Einstiegssitzung mit Stephan Mayers unterhalsamer Challenge und der Frage, wie nah man inzwischen am „Tricoder“ (StarTrek) ist. In weiteren Vorträgen ging es um zukünftige Chancen der NCC und einen realistischen Blick auf künstliche Intelligenz und Pflegeroboter. Spannende Themenkomplexe waren unter anderem dringend notwendige Organspenden, Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie Unsicherheiten bei der Diagnose des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls. Experten der NCS und der DGNI stellten nationale Leitlinien vor und diskutierten Möglichkeiten für einen internationalen gemeinsamen Ansatz.
Unter dem Vorsitz von PD Dr. Peter Nydahl (DGNI) und Dr. Paul M. Vespa (NCS) warf die Sitzung "Delirium ...with a twist“ einen besonderen Blick auf die NeruroIntensiv-Pflege, die Interaktion zwischen Pflegekräften und Ärzten und ein effektives Management. Außerdem wurden "Neuroprognostication Guidelines“ zu acht Krankheitsbildern vorgestellt: Herzkreislaufstillstand, Guillain Barré-Syndrom, Hirnblutung, Schädel-Hirn-Trauma, Rückenmarksverletzung, Subarachnoidalblutung, Akuter ischämischer Schlaganfall und Status epilepticus. Eine interaktive TED-Sitzung thematisierte regionale und nationale Strategien zum Pflegemangel, um voneinander zu lernen und mögliche Lösungen zu finden. Eins steht schon jetzt fest: Die überaus fruchtbare gemeinsame transatlantische Zusammenarbeit wird weitergehen.
Akuttherapie beim Schlaganfall, Bewusstseinsstörungen, Koma…
Die neurologische Notfall- und Intensivtherapie des schweren ischämischen Schlaganfalls war ein wichtiges Schwerpunktthema. In Expertenvorträgen wurden unter anderem aktuelle Erkenntnisse zum Thrombektomie-Management und neue, teils KI-basierte Bildgebungs-Verfahren zur besseren Vorhersagbarkeit des Krankheitsverlaufs vorgestellt.
Ein besonderer Fokus der ANIM 2024 lag auf Bewusstseinsstörungen bis hin zum Koma, die mit einer Vielzahl neurologischer Erkrankungen zusammenhängen können. Auch die Joint Meeting Sessions der NCS trugen mit ihrer vielbeachteten ‚Curing Coma Campaign‘ neue Erkenntnisse bei. Diese Kampagne für verbesserte Genesungsbedingungen von Komapatienten zeigte den weltweit dringenden Bedarf an zuverlässigen prognostischen Werkzeugen, die lokal umsetzbar sind und Lücken in Evidenz und Praxis minimieren.
So viel Fortbildung gab es noch nie…
Nie zuvor wurde so viel und vielfältige Fort- und Weiterbildung in der NeuroIntensivmedizin angeboten wie auf der ANIM 2024 in Kassel. Mit dem Angebot an über 15 Workshops und Ganztageskursen an den drei Tagen für alle an der NeuroIntensiv- und Notfallmedizin beteiligten Berufsgruppen, mit praktischen Elementen auch von vielen Partnergesellschaften war die Tagung diesmal wirklich ‚hands-on‘. Neben dem mittlerweile systematisch modular strukturierten, mehrtätigen „Kompaktkurs NeuroIntensivmedizin“ war auch der beliebte, schon zum sechsten Mal in Folge stattfindende „Emergency Neurologic Life Support (ENLS)-Kurs“ gut besucht, der durch Referenten der DGNI und NCS abgehalten wurde. Des Weiteren gab es ein umfangreiches Angebot an 4 Pflege-Workshops und 11 ärztlichen Workshops sowie den DGN-Fortbildungskurs „Neurologische Leitsymptome in der Notaufnahme“. Zum dritten Mal wurde der Ganztageskurs der DSG Stroke Winter School für das interprofessionelle Team der Stroke Unit durchgeführt.
Hochkarätiges Präsidentensymposium
Das Präsidentensymposium, das von Prof. Julian Bösel selbst gestaltet wurde, hatte die besonderen Tagungsschwerpunkte in drei Key Note Lectures im Blick. Den „Take-off“ machte Flug-Kapitänin Cordula Pflaum: „Sie behandeln Menschen, ich befördere Menschen“. Sie referierte mit leichter Hand zum Thema „Mensch und Maschine – souverän in Krisensituationen“ aus der Human Factors Academy der Lufthansa. Lassen sich seit Jahrzehnten bewährte Konzepte der Luftfahrt auf die Welt der Intensiv- und Notfallmedizin übertragen? Das tragende Modell, mit dem auch bei der Lufthansa gearbeitet wird, heißt Threat and Error Management. Das Wichtigste sei eine gute Fehler- und Sicherheitskultur. Um für möglichst viele Situationen gewappnet zu sein, müsse evidenzbasiert trainiert werden. So könne für den Ernstfall Resilienz aufgebaut werden.
Prof. Dr. Daiwai Olson, UT Southwestern Medical Center in Dallas, beleuchtete unter dem Titel „Variance is a 1-letter word: Understanding the influence of extraneous variables in neurocritical care research“ auf unterhaltsame Weise den überaus positiven und unterstützenden, aber leider oft vernachlässigten, Effekt von Pflege in der NeuroIntensivmedizin. Olson arbeitete zwei Jahrzehnte lang als „Nurse“, bevor er als erster Krankenpfleger in den USA aufgrund seiner Forschung zum ordentlichen Professor befördert wurde.
Prof. Dr. med. Dr. h.c. Dipl. Psych. Werner Hacke, Seniorprofessor der Universitätsklinik Heidelberg, bildete mit einem Parforcé-Ritt durch seine Erfahrungen von über 40 Jahren Notfall- und Intensivtherapie beim schweren ischämischen Schlaganfall unter langanhaltendem Applaus den krönenden Abschluss dieses besonderen Präsidentensymposiums. Wie kein zweiter hat Hacke selbst zur Entwicklung der Schlaganfallbehandlung beigetragen.
Diskussion aktueller Herausforderungen
Lebhafte Diskussionen gab es auch zu aktuellen Herausforderungen wie den eklatanten Personalengpässen im pflegerischen und ärztlichen Bereich, dem Zugang der Patienten zur individuell besten Versorgung und der Standortbestimmung der Spezialdisziplinen im Rahmen der kommenden Krankenhausreform. Das Potential neuer Technologien wie Roboter, KI, Machine Learning oder Intensiv-Telemedizin wurde beleuchtet – innovative Bereiche, die sich rasant weiterentwickeln. Welche Möglichkeiten lassen sich beim Zusammenwirken von Mensch und Maschine ausbauen, um die personellen Engpässe bei Ärzten, Pflegekräften und Therapeuten, die vielerorts schon zu Bettenschließungen geführt haben, teilweise aufzufangen oder im Sinne von mehr Effizienz und weniger Bürokratie abzumildern?
Austausch mit verwandten Fachgesellschaften
Die Teilnehmenden tauschten sich mit verwandten Fachgesellschaften und Kampagnen wie der Initiative of German Neurointensive Trial Engagement (IGNITE) der Interdisziplinären Arbeitsgemeinschaft Neuromedizin aus, ehemals Arbeitsgemeinschaft deutschsprachiger Neuroanästhesisten und Neuro-intensivmediziner (ADNANI). Prof. Dr. med. Konstantinos Dimitriadis, München, gab einen Überblick über laufende Studien der IGNITE Gruppe: wissenschaftlich aktive NeurologenInnen, NeurochirurgenInnen oder AnästhesistenInnen aus dem neurointensivmedizinischen Bereich. Dr. med. Farid Salih, Berlin, beleuchtete die 5. Fortschreibung der Richtlinie zur IHA-Feststellung mit der Frage, mit welchen Studien die IGNITE-Gruppe zu wissenschaftlicher Evidenz beiträgt.
Dr. Stefan Wolf, Berlin, und PD Dr. med. Wolf-Dirk Niesen, Freiburg im Breisgau, präsentierten die wichtigsten Studien der NeuroIntensivmedizin 2023 zum herausfordernden Management von PatientInnen mit schwerwiegenden neurologischen oder neurochirurgischen Erkrankungsbildern auf einer Intensivstation.
Roundtable zum "NeuroIntenisv-Pflege-Dilemma"
Ein wichtiger Schwerpunkt lag wie gewohnt auf dem Pflegebereich. Neben interprofessionellen Angeboten gab es Sitzungen speziell für Pflegekräfte und TherapeutInnen und die erstmals durchgeführte, zukunftsweisende Roundtable-Sitzung "NeuroIntenisvPflege-Dilemma". Unter dem Vorsitz von Prof. Dr. phil. Anne-Kathrin Cassier-Woidasky, Saarbrücken, und Prof. Dr. med. Thomas Westermaier, Dachau wurden drängende Fragen zur Krankenhausreform diskutiert. Personal binden und finden – wie kann das funktionieren? Es ging um den Personalmangel, der immer herausfordernder wird, die aktuelle Lage mit Pflegenden und ÄrztInnen und die Frage, wie Menschen motiviert werden können, sich für NeuroIntensivmedizin zu interessieren und auch neue Strukturen zu etablieren.
Wenn aktuell aus wirtschaftlichen Gründen Operationen größer und umfangreicher gestaltet wurden als nötig, sollte mit der Krankenhausreform vor allem der wirtschaftliche Druck von den Kliniken genommen werden: “Der Fokus soll wieder auf den Patienten und die Leitlinien gerichtet und auf eine wissenschaftlich fundierte Behandlung gelegt werden”, wie Prof. Westermaier betonte. Vor einer überstürzten Krankenhausreform müssten allerdings aufgrund des erhöhten Pflegeaufwandes für die Organisation der benötigten Pflegeplätze die Bereiche der Krankenpflege, Altenpflege, Kurzzeitpflege und Rehabilitationsmedizin weiter ausgebaut werden.
DGNI Preisverleihungen auf der ANIM 2024
Weitere Höhepunkte waren die Preisverleihungen. DGNI-Präsident Prof. Dr. Thomas Westermaier überreichte im Rahmen des Kongresses den Neurointensivpreis der DGN und DGNI erstmals an zwei Wissenschaftler: Prof. Dr. med. Adam Strzelczyk, Frankfurt am Main, und PD Dr. med. Joji Kuramatsu, Erlangen. Beide hatten das Kuratorium mit ihren Arbeiten gleichermaßen überzeugt.
Neu war in diesem Jahr der Zukunftspreis der DGNI für innovative Projekte, bei denen neue Technologien für Diagnostik oder Therapie, Datenverarbeitung oder strukturelle/prozessuale Ansätze der NeuroIntensivmedizin im Fokus stehen. Diesen Preis überreichte Prof. Dr. Julian Bösel an Dr. Moritz Luigi Schmidbauer, München. Seine Arbeit beschäftigte sich mit dem Thema der „KI-gestützten Ultraschall-Tomographie als neues Tool zur bettseitigen Schnittbildgebung bei Neurointensivpatienten“.
PD Dr. Vesna Malinova, Göttingen, bekam den Nachwuchsförderungspreis der DGNI. Sie wird dann 2025 einen kurzen Vortrag zu ihrer Studie „Hyperkoagulabilität nach aneurysmatischer Subarachnoidalblutung als diagnostischer Biomarker und möglicher Therapieansatz zur Vermeidung von Mikrothrombosen und verzögerten zerebralen Infarkten“ halten. Der Nachwuchspreisträger von 2023, Dr. Maximilian Immanuel Sprügel, Erlangen, gab einen Einblick in seine Forschungsarbeit zum „Voice Weaning – Angehörigenstimmen zur Unterstützung der Beatmungsentwöhnung von neurologischen Intensivpatienten“.
Der Pflege- und Therapiepreis ging an Kirsten Stangenberg-Gliss, Berlin, die mit der Präsentation ihres Vortrags „TATheN: Teleneurologische Angebote für Therapeutinnen und Therapeuten in Nordostdeutschland – eine Machbarkeitstudie“ die Jury überzeugen konnte.
Ausblick: ANIM 2025 in Berlin
Die diesjährige ANIM machte wieder einmal deutlich, wie spannend, komplex und herausfordernd „Neurocritical Care“ sein kann. Die anregenden Gespräche und Auseinandersetzungen können bei der ANIM 2025 vom 30. Januar bis 1. Februar 2025 in Berlin fortgesetzt werden. Kongresspräsident Prof. Dr. Matthias Klein lädt zur 42. Arbeitstagung NeuroIntensivMedizin in das Mercure Hotel MOA ein.
Weitere Informationen:
http://www.dgni.de