Sie schaut Kindern auf die digitalen Finger – und malt den Teufel nicht ins Smartphone
Ständig am Handy? Das ist doch ungesund! Medienwissenschaftlerin Anne-Linda Camerini erforscht, ob das stimmt. Die befürchtete Auswirkungen bei Heranwachsenden lassen sich nicht eindeutig belegen.
“Mein Sohn geht ins letzte Jahr der Primarschule. Und ja, er hätte gerne ein Smartphone! Aber bisher haben wir keins genehmigt.” Medienwissenschaftlerin Anne-Linda Camerini, PhD, Dozentin und Forscherin an der Fakultät für Biomedizinische Wissenschaften der USI Università della Svizzera italiana, schüttelt lachend den Kopf über die Frage. “Er darf aber ein Tablet und auch einen Computer nutzen.” Die Kinder vom Internet abzuschotten, das bringe nichts. Die Inhalte sehen sie schliesslich auch bei Freunden.
Doch wann ist objektiv der beste Zeitpunkt, seinen Kindern ein Handy zu schenken? “Diese scheinbar einfache Frage kann ich nicht beantworten”, sagt Camerini. “Was Medien, Eltern und Lehrpersonen nicht gerne hören: Wir haben bisher keine eindeutigen wissenschaftlichen Beweise dafür, wie sich die Nutzung von Smartphones auf das Wohlbefinden und die schulischen Leistungen auswirkt – auch, wenn manche gerne den Teufel an die Wand malen und von depressiven, leseschwachen Jugendlichen berichten, die am Handy hängen.” Es sei extrem schwer, Medienerziehung wissenschaftlich zu fundieren. Valide Erkenntnisse von robusten Studien über schädliche Auswirkungen sind rar.
Diagnose Handysucht gibt es nicht
Ein Problem der Forschung: Mit dem Tempo der digitalen Entwicklung kann sie kaum mithalten. Bis die Daten der Social-Media-Nutzung ausgewertet sind, tummeln sich die Menschen vielleicht schon im Metaverse oder nutzen statt des Handys Virtual-Reality-Brillen. Allein der Begriff Handysucht sei schwierig. “Im öffentlichen Diskurs wird schnell dramatisiert und pathologisiert. Aber was ist heute normal? Was bedenklich? Wir wissen es schlicht nicht. Daher gibt es auch noch keine klinische Diagnose.” Meist ginge es bei der diffusen Angst in der Gesellschaft darum, dass Bildschirme den Kindern etwas anderes wegnehmen: etwa die Zeit draussen auf dem Spielplatz oder mit Freunden. “Fakt ist aber: Wir nutzen das Smartphone auch für sinnvolle Dinge. Und ist ein Online-Game wirklich schlechter als ein klassisches Memoryspiel am Tisch? Solche Fragen möchten wir kritisch untersuchen.”
Bislang stützt sich Forschung über digitale Medien im Leben von Kindern und Jugendlichen vor allem auf sogenannte Querschnittserhebungen. Man erfasst dabei üblicherweise mittels Fragebogen verschiedene Aspekte wie die Smartphone-Nutzung und das Wohlbefinden zum selben Zeitpunkt, macht also nur Momentaufnahmen. Zudem bleibt die klassische Frage nach dem Huhn oder dem Ei unbeantwortet: “Verursacht das Smartphone psychische Probleme oder nutze ich es so oft, weil ich Probleme habe?” In Studien seien die messbaren Effekte rund um das Gerät sehr schwach: “Es ist generell schwer, über die Zeit hinweg Zufriedenheit zu ergründen”, so die Forscherin. Wer sagt, dass tatsächlich mein Smartphone damit zu tun hat, dass ich heute glücklich bin und in drei Monaten weniger? Es gibt schliesslich viele andere Aspekte, die das „gute Gefühl“ beeinflussen. Heute gehe man in der Wissenschaft zwar eher davon aus, dass sehr starke Smartphone-Nutzung etwas wegnehme davon. "Einige Forschende behaupten aber auch – etwas bissig –, dass es ebenso schlimm sei, Kartoffeln zu essen.” Camerini zuckt mit den Schultern.
Smartphones Jugendlicher getrackt
Um die Lücken zu einem besseren Verständnis der Vorteile und Risiken von Smartphones im Leben von Kindern und Jugendlichen zu schliessen, eignen sich sogenannte Langzeitstudien besonders gut. Die bisher wichtigste Arbeit Camerinis war denn auch eine solche: Für das Projekt Mediaticino erhob die Wissenschaftlerin zwischen 2014 und 2021 Längsschnittdaten in Zusammenarbeit mit Schulen im Tessin, um unter anderem zu untersuchen, ob mobile, digitale Medien zur Zufriedenheit junger Menschen beitragen – und das auch während der Pandemie. Die Kohorte umfasste mehr als 1000 Schülerinnen und Schüler, die zu Beginn des Projektes zehn Jahre alt waren. Einmal im Jahr füllten sie einen Fragebogen aus und am Ende des Schuljahres wurden ihre Antworten mit den Zeugnisnoten als Indikatoren ihrer schulischen Leistungen verknüpft. Zudem sammelten Camerini und ihr Team Längsschnittdaten von den Eltern, um das familiäre Umfeld besser verstehen und berücksichtigen zu können.
Um das Projekt nach 2018 weiterführen zu können, erhielt Camerini vom Schweizerischen Nationalfonds dann ihr erstes Projektstipendium. “Mein Motto war immer: Die Komfortzone verlassen und neue Methoden ausprobieren! Ich überlegte mir, wie könnte man den technischen Fortschritt nicht nur untersuchen, sondern auch für die Forschung nutzen?” So trackte sie für das Projekt, das schliesslich in „Mediaticino2.0“ umbenannt wurde, neben den Befragungen auch die Smartphones der nun 14-jährigen Jugendlichen und erhielt so objektive Daten darüber, wie viel Zeit sie damit verbrachten und wie häufig sie es nutzen – ein Methodenmix, der damals insbesondere wegen des doch heiklen Zugriffs auf die privaten Daten von Jugendlichen in der Schweiz einzigartig war.
Digital Detox bringt wenig
Das Ergebnis? Wenn man lange am Smartphone hängt, gilt das in der Gesellschaft schnell als problematisch. Die Studie zeige aber, dass es nicht unbedingt um die Bildschirmzeit geht, wie die Forscherin sagt, sondern darum, wie man diese nutzt. Vielleicht liest man ja auch zwei Stunden am Stück ein digitales Sachbuch. “Es ist schon eher problematisch, wenn man sehr häufig kurz aufs Smartphone schaut und dadurch andere Tätigkeiten unterbrochen werden. Das ständige Kontrollieren neuer Nachrichten oder des Social-Media-Feeds kann die Konzentration beeinträchtigen und zu Konflikten mit den Mitmenschen führen”, erklärt Camerini. Die Studien zeigten auch: Eine vielseitige Internetnutzung und die Balance von Online- und Offlineaktivitäten tun gut. Gerade während der Pandemie konnten Junge über das Internet im Austausch bleiben und eine gewisse Normalität ausserhalb des Familienkreises aufrechterhalten, sei es durch das Chatten in kleinen Whatsapp-Gruppen oder die Teilnahme in virtuellen Klassenzimmern – die Nutzung digitaler Geräte half, sich besser zu fühlen.
“Von klassischen Zeitbudget-Regeln halte ich daher wenig”, sagt Camerini. “Genauso wenig wie von Digital Detox, ”also einer strikten Smartphone-Abstinenz auf Zeit. "Detox funktioniert bei Substanzen, auf die man dauerhaft verzichten möchte: Nikotin, Alkohol, Rauschmittel. Das ist bei der Nutzung von Smartphones etwas völlig anders.” Deswegen erarbeitet sie mit verschiedenen Akteuren Strategien, die zu einer besseren Selbstkontrolle bei Kindern und Jugendlichen führen könnten. Denn der Unterschied zwischen ihnen und Erwachsenen ist vor allem der Grad an Selbstdisziplin, die sich erst im Laufe der Zeit ausbildet.
Camerini achtet im eigenen Familienleben auf wenige, aber grundsätzliche Dinge, um die Selbstkontrolle mit ihren beiden Kindern zu trainieren. Dabei sei das Prioritätensetzen ganz wichtig: Wenn man mit einer Person redet, wird nicht aufs Handy geschaut. Am Esstisch sind Smartphones verboten. Erst wenn die Hausaufgaben fertig sind, darf am Tablet entspannt werden. Für die Eltern gelte: Sie sollen Kinder nicht mit der Verantwortung allein lassen. Und: Es braucht nicht den Ferrari unter den Smartphones. “Lieber erst einmal auf ein Gerät mit wenigen Funktionen setzen, wenn man den Kindern das erste Handy besorgt.” Wann darf sich nun ihr Sohn über das eigene Smartphone freuen? “Wenn ich das Gefühl habe, dass er bereit dafür ist”, sagt Camerini. Dazu gehöre auch, dass er das Smartphone nirgendwo liegen lasse.
Der Text dieser Medienmitteilung, ein Downloadbild und weitere Informationen stehen auf der Webseite des Schweizerischen Nationalfonds zur Verfügung.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Sektor Kommunikation
E-Mail: com@snf.ch
Weitere Informationen:
https://www.snf.ch/de/9bWg7FAneoWfgtNV/news/sie-schaut-kindern-auf-die-digitalen-finger-und-malt-den-teufel-nicht-ins-smartph