David-Sackett-Preis 2024 für zwei wissenschaftliche Arbeiten aus dem Bereich der Pflegewissenschaft
Eine Gruppe von Forschenden aus der Pflegewissenschaft erhält den Wissenschaftspreis des EbM-Netzwerks 2024 für zwei Cochrane Reviews zu Interventionen zur Reduktion von freiheitsentziehenden Maßnahmen bzw. von Antipsychotika in der Langzeitpflege von älteren Menschen mit kognitiven Einschränkungen oder demenziellen Erkrankungen. Die Arbeiten haben eine große Bedeutung für die Verbesserung der Qualität der Versorgung von älteren Menschen.
Weltweit steigt die Zahl älterer Menschen und mit ihr die Zahl von Menschen mit demenziellen Erkrankungen. Ob im häuslichen Umfeld, in der ambulanten oder der stationären Pflege: die Betreuung und Pflege dieser Menschen stellen eine große gesellschaftliche Herausforderung dar. Um Stürze zu vermeiden oder als herausfordernd wahrgenommene Verhaltensweisen besser kontrollieren zu können, werden in der Pflege älterer Menschen mit Demenz häufig freiheitsentziehende Maßnahmen (FEM) wie Bettgitter oder Fixiergurte, oder Antipsychotika, d. h. Medikamente zur Reduktion von Unruhe, eingesetzt. Beide Maßnahmen werden kontrovers diskutiert, da ihr Einsatz die gewünschten Behandlungs- bzw. Therapieziele meist nicht erreicht, für die Betroffenen jedoch verschiedene negative Folgen für die Gesundheit haben kann. Daher wird in wissenschaftlichen Leitlinien und Fachverbänden in vielen Ländern seit langem gefordert, diese Maßnahmen zu vermeiden.
Die Ermittlung des aktuellen Kenntnisstands zum Nutzen und Schaden von Programmen, die FEM und Antipsychotika reduzieren sollen, ist daher eine wichtige Aufgabe und Grundlage für die evidenzbasierte Entscheidungsfindung für oder gegen ihren Einsatz. Dieser Aufgabe hat sich eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern um Ralph Möhler (Institut für Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomie, Universitätsklinikum Düsseldorf) angenommen, in enger Zusammenarbeit mit Gabriele Meyer (Universität Halle/Wittenberg) und Sascha Köpke (Universität Köln), die dieses Thema bereits seit vielen Jahren beforschen.
Im ersten Review gingen die Autorinnen und Autoren der Frage nach, welchen Effekt Interventionen zur Vermeidung und Verringerung von FEM bei älteren Menschen in der Langzeitpflege haben. In den Review wurden 11 Studien mit 19.000 Menschen mit Demenz eingeschlossen. Möhler et al. fanden Evidenz von moderater Vertrauenswürdigkeit dafür, dass organisationsbezogene Interventionen mit dem Ziel der Umsetzung einer „So-wenig-FEM-wie-möglich“-Strategie wahrscheinlich zu einer Verringerung der Anzahl von Personen, bei denen mindestens eine FEM angewendet wird, und einer starken Verringerung der Anzahl von Personen, bei denen mindestens ein Fixiergurt zur Anwendung kommt, führen. Sie fanden keine Evidenz für unerwünschte Effekte wie Stürze. Die untersuchten Interventionen zielen auf Veränderungen von Prozessen und der Kultur in den Pflegeeinrichtungen. Edukative Interventionen ohne einen organisationalen Ansatz scheinen dagegen keinen Nutzen zu haben.
Im zweiten Review wurde die Frage untersucht, welchen Effekt psychosoziale, d. h. nicht-medikamentöse, Interventionen zur Verringerung des Einsatzes von antipsychotischen Medikamenten bei älteren Menschen mit Demenz in Pflegeeinrichtungen haben. In den Review wurden fünf Studien mit rund 8.300 Teilnehmenden eingeschlossen. Die Studien waren sehr heterogen und unterschieden sich in der Richtung der Effekte der untersuchten Interventionen. Zudem war die Berichterstattung zu den komplexen Interventionen unvollständig. Aufgrund dieser Probleme und der geringen Studienzahl urteilten die Autorinnen und Autoren, dass es keine ausreichende Evidenz für die Formulierung von eindeutigen und belastbaren Schlussfolgerungen gibt.
In ihrer Laudatio betonte Cordula Braun (Ko-Sprecherin des Fachbereichs Gesundheitsfachberufe im EbM-Netzwerk) die hohe Relevanz der beiden systematischen Reviews für die Versorgung pflegebedürftiger älterer Menschen mit demenziellen Erkrankungen hervor. Beide Arbeiten seien sorgfältig nach den hohen methodischen Standards von Cochrane erstellt worden und berücksichtigen dabei differenziert die Komplexität der untersuchten Intervention. Sie gingen damit über die üblichen Standards für systematische Reviews hinaus. Dies sei ein Grund für die Entscheidung der Jury für die Auswahl dieser Bewerbung für den David-Sackett gewesen. Cordula Braun hob weiter die hohe Bedeutung von systematischen Reviews für die evidenzbasierte Gesundheitsversorgung hervor. Systematische Reviews seien gerade deshalb so bedeutsam, weil sie - entgegen der isolierten Betrachtung einzelner Studien - ein verlässliches Gesamtbild des wissenschaftlichen Kenntnisstandes zu einer gesundheitsbezogenen Fragestellung ermöglichten. Zurecht würde kritisiert, dass eine hohe und zunehmende Zahl der publizierten systematischen Reviews von unzureichender Qualität ist. Daher sei es besonders wichtig, die Bedeutung hochwertiger systematischer Reviews zu versorgungsrelevanten Fragestellungen zu betonen und positive Beispiele hervorzuheben. Dies geschehe mit Auszeichnung der Wissenschaftlergruppe um Ralph Möhler für ihre beiden Cochrane Reviews zur pflegerischen Versorgung von älteren Menschen mit dementiellen Erkrankungen mit dem David-Sackett-Preis 2024. Die Auszeichnung würdigt auch die langjährige Forschungsaktivität der Gruppe in diesem hochrelevanten Themenbereich.
Originalpublikation:
Mit dem David-Sackett-Preis ausgezeichnete Cochrane Reviews:
Möhler R, Richter T, Köpke S, Meyer G. Interventions for preventing and reducing the use of physical restraints for older people in all long-term care settings. Cochrane Database Syst Rev 2023;(7):CD007546
Lühnen J, Richter T, Calo S, Meyer G, Köpke S, Möhler R. Psychosocial interventions for reducing antipsychotic medication in care home residents. Cochrane Database Syst Rev 2023;(8):CD008634
Weitere Informationen:
https://www.ebm-netzwerk.de/de/veroeffentlichungen/david-sackett-preis Informationen über den David-Sackett-Peis