PKS 2023: Die Kriminalstatistik ist nichts für Amateure und rechte Brandstifter
Am heutigen Tag wurde von Bundesinnenministerin Nancy Faser (SPD) und dem Präsidenten des Bundeskriminalamtes (BKA) Holger Münch die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) für 2023 veröffentlicht. Wir haben mit Prof. Dr. jur. André Schulz, Kriminalwissenschaftler an der Northern Business School (NBS), zu diesem Thema gesprochen.
Am heutigen Tag wurde von Bundesinnenministerin Nancy Faser (SPD) und dem Präsidenten des Bundeskriminalamtes (BKA) Holger Münch die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) für 2023 veröffentlicht. Wir haben mit Prof. Dr. jur. André Schulz, Kriminalwissenschaftler an der Northern Business School (NBS), zu diesem Thema gesprochen.
NBS: Herr Professor Schulz, immer mehr Straftaten, immer mehr nicht-deutsche Tatverdächtige, immer jüngere und brutalere Täter. Beunruhigen Sie die heute veröffentlichten Zahlen zur Kriminalität in Deutschland?
Schulz: Mich beunruhigen der Russland-Ukraine-Krieg, der Nahost-Konflikt, die bellizistische Stimmung in den Medien, mich beunruhigt, dass ein Mann wie Donald Trump erneut Präsident in den USA werden könnte, der Klimawandel, und der Rechtsruck in der Gesellschaft. Ich ärgere mich über Rechtspopulismus und unseriöse Medien, die Jahr für Jahr die polizeiliche Kriminalstatistik versuchen zu ihren Gunsten auszuschlachten und über konservative Politikerinnen und Politiker, die aus eigenem Interesse gerne über diese Stöckchen springen. Die Zahlen der Kriminalstatistik beunruhigen mich hingegen weniger. Auch mir ist jede Straftat eine Tat zu viel. Aber abgesehen davon, dass es eine soziologische Grundkenntnis ist, dass es keine Gesellschaft ohne ein gewisses und „normales“ Maß an Kriminalität gibt, wird die polizeiliche Kriminalstatistik in ihrer Aussagekraft regelmäßig völlig überschätzt. Es ist ein Arbeitsnachweis der Polizei, nicht mehr als eine Strichliste, die nichts über die Qualität der Kriminalität aussagt. Die PKS unterliegt zahlreichen Verzerrungsfaktoren und kann als Ausgangsstatistik weder aufzeigen, ob jemand tatsächlich schuldhaft eine Tat begangen hat, noch ob das Verfahren später eingestellt wurde oder die Person nachweislich unschuldig war.
NBS: Ist Deutschland denn nun unsicherer geworden?
Schulz: Das kann man nicht seriös beantworten. Die Kriminalstatistik ist kein getreues Spiegelbild der Kriminalitätswirklichkeit, sondern eine je nach Deliktsart mehr oder weniger starke Annäherung an die Realität. Die Zahlen der PKS müssen immer im Kontext bewertet und von Expertinnen und Experten interpretiert werden. Mit der PKS wird lediglich das Hellfeld erfasst, also jene Straftaten, die entweder bei der Polizei angezeigt wurden oder der Polizei durch eigene Ermittlungen bekannt geworden sind. Darüber hinaus gibt es das Dunkelfeld, das sind die Straftaten, die der Polizei nicht bekannt geworden sind. Um dieses Dunkelfeld aufzuhellen, betreiben Kriminologinnen und Kriminologen Dunkelfeldforschung. Man kann das Dunkelfeld bei zahlreichen Delikten aber auch durch aktivere Polizeiarbeit aufhellen, bei den sogenannten Kontrolldelikten. Die Zahl der Delikte hängt also stark von der Kontrollaktivität der Polizei ab. Ein Beispiel: Wenn ein Innenminister in einem Land möchte, dass die Zahl der Rauschgiftkriminalität signifikant steigt, weil er eventuell seinem Ressort mehr Bedeutung verleihen möchte oder um mehr Stellen für die Polizei zu beantragen, sorgt er dafür, dass die Polizei an entsprechenden Orten verstärkt Drogenkonsumenten kontrolliert. So steigen nicht nur die Fallzahlen in diesem Deliktbereich, gleichzeitig steigt auch die Aufklärungsquote. Möchte ein Innenminister lieber als besonders erfolgreich wahrgenommen werden, sorgt er dafür, dass die Polizei in seinem Bundesland keine entsprechenden Kontrollen durchführt. In der Folge sinken die Fallzahlen. Grundsätzlich muss man die statistische Kriminalitätsentwicklung stets über einen längeren Zeitraum, mindestens über 10 Jahre und länger, betrachten, um Aussagen über die Entwicklung treffen zu können. Das gilt im Besonderen für die Delikte, wo wir gerade eine Steigerung der Fallzahlen zu verzeichnen haben. Zudem darf man nicht die absoluten Zahlen vergleichen, sondern muss die registrierten Taten pro 100.000 Einwohner, die sogenannte Häufigkeitszahl, betrachten.
NBS: Bei den Tatverdächtigen hat der Anteil der Kinder und Jugendlichen deutlich zugenommen.
Schulz: Die Zahl der Straftaten durch Kinder und Jugendliche waren seit Jahrzehnten rückläufig bzw. stagnierten. Aus der kriminologischen Dunkelfeldforschung weiß man, dass die überwiegende Mehrheit der Menschen, über 90 % Prozent, in ihrer Kindheit oder Jugendzeit zumindest einmal im strafrechtlichen Sinne auffällig werden. Allerdings kommt nur ein kleiner Teil der Betroffenen deshalb mit der Polizei in Berührung. Ein Großteil der Menschen gibt derartige Verhaltensweisen spätestens mit dem Übergang in das Erwachsenenalter wieder auf und das, obwohl die Taten nicht entdeckt oder gar sanktioniert wurden. Kriminelles Verhalten ist im Altersverlauf normal. In der Adoleszenz verknüpfen und entwickeln sich neue Synapsen und erst ab einem Alter von etwa 25 Jahren ist das Gehirn vollständig entwickelt. Deshalb ist auch die Debatte um die Absenkung des Strafmündigkeitsalters eine Phantomdiskussion. Auch die Forderung nach härteren Strafen ist nicht zielführend. Die abschreckende Wirkung härterer Sanktionen gilt in der Wissenschaft als widerlegt. Kindertypische Delinquenz beläuft sich in den meisten Fällen auf sogenannte Bagatelldelikte, wie Sachbeschädigung, Ladendiebstahl, Körperverletzung oder Brandstiftung. Bereits im letzten Jahr wurde das Niveau von 2019 übertroffen und ist nun nochmals angestiegen. Das liegt zum einen daran, dass es bei dieser Personengruppe einen „Nachholbedarf“ nach Corona gab, das heißt es gibt keine Einschränkungen mehr bei den sozialen Kontakten, was mehr Tatgelegenheiten schafft. Zum anderen zählt jedes Kleinkind auf dem Arm der Mutter bei einem Grenzübertritt ohne Visum als tatverdächtig. Nicht vergessen als Erklärung dürfen wir zudem, dass wirtschaftliche Aspekte dafür eine Rolle spielen können. Es ist eine Binsenweisheit, dass eine gute Sozialpolitik die beste Kriminalpolitik ist. Dies zeigt sich auch durch die Zunahme der Ladendiebstähle und beim Tankbetrug, die oftmals von Menschen in prekären Lebenslagen begangen werden.
NBS: Die Kriminalstatistik verzeichnet für das vergangene Jahr einen deutlichen Anstieg bei den Gewaltdelikten. Auch die Fälle der registrierten Messerangriffe ist 2023 wieder gestiegen.
Schulz: Die Aussage, dass die registrierten Messerangriffe gestiegen sind, war eine expertisenfreie Aussage eines Polizeigewerkschafters, die einige Medien übernommen haben. Das BKA hat erst Anfang 2020 mit der Erfassung der Messerangriffe begonnen. Grund hierfür war hauptsächlich medialer Druck. Kriminologisch sinnvoll oder erforderlich ist die Erfassung nicht. Nach der Definition des BKA muss der Angriff mit einem Messer unmittelbar gegen eine Person angedroht oder ausgeführt werden, das bloße Mitführen reicht nicht aus. Für das Jahr 2021 konnte diese Art der Gewalt erstmals vom BKA ausgewiesen werden. Bei der Bewertung muss man als Messerangriff erfasste Taten der gefährlichen und schweren Körperverletzung sowie des Raubes zusammenzählen. Dann stellt man fest, dass die Messerangriffe im Vergleich zu 2022 sogar leicht zurückgegangen sind.
Auch wenn man den Eindruck hat, dass bei einigen die Zündschnur deutlich kürzer geworden ist, gibt es für eine Verrohung der Gesellschaft oder eine Zunahme der Brutalität keine empirischen Nachweise. Die Zunahme der Taten bei der Gewaltkriminalität kann aus einer gestiegenen gesellschaftliche Sensibilisierung und entsprechend mehr Anzeigen resultieren. Das bedeutet, dass vielleicht nur das Hellfeld größer und das Dunkelfeld kleiner geworden ist, während die tatsächlichen Fälle im Dunkelfeld eventuell sogar insgesamt weniger geworden sind. Die Zunahme bei den registrierten Gewaltdelikten erfolgte vor allem im öffentlichen Raum, und zwar in einem erheblichen Maße in ökonomisch schwächeren Regionen, was abermals verdeutlicht, dass sich wirtschaftliche und soziale Belastungen auch in Kriminalität manifestieren. Des Weiteren spielt auch die hohe Zuwanderungsrate eine Rolle. Viele Schutzsuchende weisen mehrere Risikofaktoren auf, die Gewaltkriminalität wahrscheinlicher machen. Dazu gehören die Lebenssituation in Erstaufnahmeeinrichtungen sowie wirtschaftliche Unsicherheit und eigene Gewalterfahrungen.
NBS: Die nicht-deutschen Tatverdächtigen sind laut PKS 2023 um 17,8 Prozent gestiegen.
Schulz: Hier müssen zuerst einmal bestimmte Straftaten wie die unerlaubte Einreise oder Verstöße gegen das Aufenthalts- und das Asylverfahrensgesetz herausgerechnet werden, da diese nur von Ausländern begangen werden können. Damit beträgt der Anstieg dann zwar immer noch 13,5 Prozent. Wie aber bereits angesprochen, unterliegt die PKS zahlreichen Verzerrungsfaktoren, so zum Beispiel beim Anzeigeverhalten. Man kann empirisch belegen, dass Menschen, die „ausländisch“ aussehen, öfter angezeigt werden als Menschen, die eher „deutsch“ aussehen. Wir hatten aber – und das ist der Hauptgrund, eine hohe Zahl von Zuwanderern, hauptsächlich durch die Kriege in Syrien und der Ukraine. Setzt man die Zahl der ausländischen Tatverdächtigen dann ins Verhältnis zu der durch Einwanderung deutlich gestiegenen Anzahl nichtdeutscher Personen in der Gesamtbevölkerung, fällt der Anstieg bei ausländischen Tatverdächtigen ähnlich, teilweise sogar geringer aus als bei deutschen Tatverdächtigen. Grundsätzlich hat Herkunft, Ethnie oder Religion nichts damit zu tun, ob ein Mensch kriminell wird oder nicht. Insgesamt ist die getrennte Erfassung von deutschen und nicht-deutschen Tatverdächtigen sinnlos und unheilvoll, sie bedient nur Rassismus und Ausländerfeindlichkeit.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Andre Schulz schulz@nbs.de