Fachkräfte an deutschen Schulen nehmen häufig religiös motivierte Konflikte wahr | Forschende fordern mehr Unterstützung
Etwa ein Drittel der pädagogischen Fachkräfte an deutschen Schulen nehmen unter Schülerinnen und Schülern religiös motivierte Konflikte wahr und empfinden dies als Herausforderung. Die Wahrnehmung von Lehrkräften und Sozialarbeitenden bezieht sich dabei häufig auf tatsächliche, aber auch auf vermeintliche Konflikte sowie religiös teils radikalisierte Einstellungen und weist auf eine Verunsicherung der Fachkräfte hin. Entsprechend fordern die Forschenden, die Fachkräfte in ihrer Arbeit besser zu unterstützen. Das schlussfolgern sie aus den bisherigen Ergebnissen einer laufenden Studie eines Kooperationsprojekts zwischen der Universität Vechta und der IU Internationale Hochschule Bremen.
Etwa ein Drittel der pädagogischen Fachkräfte an deutschen Schulen nehmen unter Schülerinnen und Schülern religiös motivierte Konflikte wahr und empfinden dies als Herausforderung. Die Wahrnehmung von Lehrkräften und Sozialarbeitenden bezieht sich dabei häufig auf tatsächliche, aber auch auf vermeintliche Konflikte sowie religiös teils radikalisierte Einstellungen und weist auf eine Verunsicherung der Fachkräfte hin. Entsprechend fordern die Forschenden, die Fachkräfte in ihrer Arbeit besser zu unterstützen. Das schlussfolgern sie aus den bisherigen Ergebnissen einer laufenden Studie eines Kooperationsprojekts zwischen der Universität Vechta und der IU Internationale Hochschule Bremen.
Als problematisch erkennen die Forschenden, dass der Blick pädagogischer Fachkräfte offenbar vorrangig auf muslimische Schüler*innen gerichtet ist, während Verhaltensweisen von Schüler*innen anderer Religionen kaum erwähnt werden. Dies kann auf eine Tendenz zur einseitigen Wahrnehmung hinweisen und daraus resultierenden vorschnellen Urteile können nach Einschätzung der Forschenden zu einer Stigmatisierung muslimischer Schüler*innen führen.
Im Interview erläutern die Projektleitenden Prof.in Dr.in Margit Stein (Universität Vechta, Erziehungswissenschaften) und Prof. Dr. Mehmet Kart, (IU Internationale Hochschule Bremen, Fachbereich Soziale Arbeit) die Einzelheiten.
Ihr Projekt „Distanz: Strukturelle Ursachen der Annäherung an und Distanzierung von islamistischer Radikalisierung - Entwicklung präventiv-pädagogischer Beratungsansätze“ zielt auf die Erforschung strukturell-gesellschaftlicher Faktoren der Distanzierung und Deradikalisierung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert das Projekt, das im Oktober 2024 abgeschlossen wird.
Interview
Frau Prof.in Stein, Herr Prof. Kart, Ihre Studie offenbart eine wesentliche Herausforderung für Schulen in Deutschland. Was ist das Ziel Ihrer Untersuchung und worum geht es im Kern bei Ihren Ergebnissen?
Prof*in Dr.*in Margit Stein: Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter*innen stehen häufig vor Herausforderungen, die sich aus vermeintlich oder tatsächlich religiös motivierten Konflikten und religiös radikalisierten Einstellungen ergeben. Das Hauptziel dieser Studie war es deshalb, ein vertieftes Verständnis für ihre Sicht bezüglich der Charakteristika dieser Konflikte zu gewinnen und daraus Schlussfolgerungen für die Weiterentwicklung des schulischen Umfelds als Ort des Lernens und der Erfahrung im Kontext religiöser Vielfalt zu ziehen.
Die Ergebnisse unserer Studie zeigen nun deutlich, dass die Begegnung mit religiöser Vielfalt in Schulen von Fachkräften oft als herausfordernd wahrgenommen wird. Besonders auffällig ist dabei die Tendenz, verschiedenartige Verhaltensweisen und Aktivitäten der Schüler*innen – oftmals mit religiösem Hintergrund – schnell als Anzeichen islamistischer Radikalisierung zu interpretieren. Dies kann ein Hinweis darauf sein, dass provokantes Verhalten von muslimischen Schüler*innen stärker problematisiert wird, als gleiches Verhalten von nicht-muslimischen Schüler*innen.
Vor kurzem gab es erneut eine Diskussion um religiöse Konflikte an Schulen. Inwieweit stehen solche Fälle in Deutschland in Verbindung mit Ihrer Studie?
Prof. Dr. Mehmet Kart: Anfang des Jahres 2024 rückte der Bereich der religiös motivierten Konflikte an Schulen wieder in das Interesse der Öffentlichkeit im Zuge der medialen Berichterstattung um eine als „Scharia-Polizei“ bezeichnete mutmaßliche Gruppe von vier Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 17 und 19 Jahren, die an einer Schule als Sittenwächter auftraten, um insbesondere andere muslimische Mitschüler*innen, die ihr Verständnis des Glaubens und des Praktizierens nicht teilten, physisch und psychisch unter Druck zu setzen.
In der jüngeren Vergangenheit stieß außerdem eine Initiative des Neukölner Bezirksamts auf Kritik, da sie Konflikte auf die Religionszugehörigkeit reduziert und den Blick auf pädagogische Lösungen verstellt. Das Amt hatte eine „Anlauf- und Dokumentationsstelle für konfrontative Religionsbekundungen“ geplant. Entsprechend wichtig ist der Fokus unserer Studie auf die Wahrnehmung von pädagogischen Fachkräften gegenüber solchen Konflikten.
Welche Arten von Konflikten nehmen diese Fachkräfte denn Ihrer Studie zufolge wahr?
Prof.in Stein: In dieser deutschlandweiten, allerdings nicht repräsentativen Studie geben gut ein Drittel (34,1%) der Befragten an, religiös begründete Konflikte in der Schule wahrzunehmen. Diese werden insbesondere als interreligiöse Konflikte zwischen Angehörigen verschiedener Religionen, als intrareligiöse Konflikte, etwa zwischen Sunnit:innen und Schiit:innen, Konflikte um Religionsauslegung sowie um Gleichberechtigung von Religionen eingeordnet.
36,6% geben an, im Schulalltag Herausforderungen im Kontext religiöser Praktiken zu begegnen. Diese beziehen sich insbesondere auf religiöse Feste und Feiertage, religiös begründetes Fasten oder aber im Zusammenhang mit religiösen Aspekten begründetes Versäumen von Unterricht und Klassenfahrten.
Überdies geben 26% der Befragten an, Erfahrungen mit islamistischen Einstellungen und Aussagen zu haben. Es ist zu berücksichtigen, dass dies keine Rückschlüsse auf tatsächliche Herausforderungen und Radikalisierungstendenzen zulässt, sondern die Wahrnehmungen und Deutungen der Pädagog*innen erfasst werden.
Prof. Kart: Auffällig ist außerdem, dass muslimische Lehrkräfte signifikant häufiger solche Konflikte wahrnehmen. Sie sind möglicherweise einerseits stärker für die Themen sensibilisiert. Andererseits werden sie mutmaßlich bei herausfordernden Vorfällen häufig als Beratende hinzugezogen. Gleiches gilt zum Beispiel für Schulsozialarbeitende.
Sie haben also nicht die Konflikte selbst untersucht, sondern die Perspektive der Fachkräfte. Welche Folgen kann deren Wahrnehmung in ungünstigen Fällen an Schulen haben?
Prof. Kart: Die mutmaßliche Tendenz zur einseitigen Wahrnehmung und die daraus resultierenden vorschnellen Urteile können zu einer ungerechten Stigmatisierung muslimischer Schüler*innen führen. Solche Stigmatisierungen wirken sich nicht nur negativ auf das Selbstverständnis und die Identität der betroffenen Jugendlichen aus, sondern können auch das Miteinander und die Integration innerhalb der Schülergemeinschaft stören. Dies steht im Widerspruch zum eigentlichen Bildungsauftrag, der eine inklusive und respektvolle Lernumgebung anstrebt.
Gibt es Empfehlungen, die Sie auf Grundlage Ihrer bisherigen Erkenntnisse dazu geben können wie man die Situation für Fachkräfte und Lernende an Schulen verbessern kann?
Prof.in Stein: Die Ergebnisse unserer Studie zeigen, dass pädagogische Fachkräfte an Schulen vielfältige Konflikte mit Religionsbezug wahrnehmen. Die Schilderungen zu den Konflikten weisen auf starke Verunsicherungen bezüglich des Themas hin. Diese Verunsicherungen und die Konflikte, denen die Pädagog*innen im Schulalltag begegnen, müssen ernst genommen werden und Betroffene müssten mehr Unterstützung bei deren Bewältigung erhalten. Ein sehr hoher Prozentsatz der Befragten gibt an, dass ein Weiterbildungsbedarf besteht und dass man sich Hilfe und Unterstützung bei Konflikten wünscht. Insgesamt muss noch stärker kommuniziert werden, dass es spezialisierte Fachberatungsstellen auch für Lehrkräfte gibt, wo man sich etwa bei religiösen Konflikten oder Verdachtsfällen von Radikalisierung Hilfe und Beratung holen kann, etwa „beRATen Niedersachsen“ in Hannover. Auch existiert sehr gutes Material, das Lehrkräften und pädagogischen Mitarbeitenden an Schulen hilft, mit Konflikten und Herausforderungen im Kontext der Religionen umzugehen, etwa das Material ‚The kids are alright‘ von UFUQ.
Prof. Kart: Es ist wichtig, zielgerichtete Bildungsangebote für pädagogische Fachkräfte zu entwickeln, die die Kompetenzen im Umgang mit Vielfalt aber auch mit Konflikten und Radikalisierung und Fundamentalismen bei Schüler*innen und Eltern stärken. Zudem ist entscheidend, dass bereits in der Ausbildung von Lehrkräften und Schulsozialarbeiter*innen ein starker Schwerpunkt auf Themen wie interkulturelle Kompetenz, religiöse Vielfalt und Anti-Diskriminierung, sowie auf die Prävention von Radikalisierung gelegt wird.
Hinweis zur Erhebung:
In der deutschlandweiten Studie wurden überwiegend Lehrkräfte (78%), Schulleitungen (8,9%, teils in doppelter Funktion), Schulsozialarbeiter*innen (8,5%) und Schulpsycholog*innen (3,2%) über einen Online-Access-Panel-Anbieter akquiriert und zu ihren Erfahrungen befragt. Die Daten wurden im Sommer 2023 erhoben. In der Studie mit einer bereinigten Gesamtstichprobengröße von 694 Personen zeigt sich eine Geschlechterverteilung von 66,4% Frauen zu 33,3% Männern.