Kommentar zu Wahlen in Nordmazedonien: Beweis der geopolitischen Blindheit der EU
Nordmazedonien wählt am 8. Mai Parlament und Staatsoberhaupt neu. Dabei könnte die derzeitige pro-europäische Regierung abgewählt werden und womöglich eine Hinwendung des Landes zu Russland folgen. Der Südosteuropahistoriker Prof. Dr. Ulf Brunnbauer, der regelmäßig im Land forscht, kommentiert:
Im globalen Superwahljahr 2024 ist es für ein Land mit 1,8 Millionen Einwohnern schwer, Aufmerksamkeit zu beanspruchen. Doch die Wahlen in Nordmazedonien verdienen Interesse, denn ihr Ausgang ist eng mit enttäuschten Hoffnungen in die Europäische Union verbunden – und mit Risiken für die EU. Das Wahlverhalten und die innenpolitischen Weichenstellungen in Nordmazedonien haben das Potenzial, über die Grenzen des Landes hinweg Unruhe zu verursachen.
Immer wieder hat Nordmazedonien seine Leidenschaft und seine Leidensfähigkeit für das große Ziel EU-Beitritt unter Beweis gestellt. Es hat sogar den Staatsnamen dafür geändert. Doch regelmäßig hat die EU dem Land die kalte Schulter gezeigt. So wartet Nordmazedonien mehr als 20 Jahre nach seinem Antrag auf EU-Mitgliedschaft weiter auf die Eröffnung von Verhandlungskapiteln. Viele Menschen im Land fühlen sich von der EU verraten – mehr noch, sie befürchten eine Erosion ihrer nationalen Identität oder gar den Verlust ihrer Staatlichkeit, nachdem gerade Bulgarien mit immer neuen absurden geschichtspolitischen Forderungen den Weg zum Beitrittsprozess versperrt. Die Folge: Laut Umfragen droht der pro-europäischen Regierung, geführt von den Sozialdemokraten, die Abwahl. Die größte Oppositionspartei, die zumindest in der Vergangenheit latent prorussische, national-konservative VMRO-DPMNE, nutzt diese Stimmung und positioniert sich erfolgreich als Verteidigerin der nationalen Eigenständigkeit.
Für das Land bedeutet das nichts Gutes. Klientelismus, Korruption, ethnische Spannungen oder auch die Unprofessionalität von Teilen der öffentlichen Verwaltung könnten nur innerhalb der EU behoben wer-den. So aber werden weiterhin viele Bewohner*innen des Landes auswandern, nicht zuletzt nach Deutschland, womit Nordmazedonien wertvolles Potenzial verloren geht. Für die EU ist diese Prognose ein Armutszeugnis. Erneute ethnische Konflikte drohen, ein weiteres Land am Westbalkan könnte sich nach Osten abwenden, während Brüssel seine Glaubwürdigkeit als Stabilisierungsfaktor in dieser span-nungsreichen Region vollends verspielt hätte. Offensichtlich haben die Akteure in der EU die brisante geopolitische Dynamik am Balkan noch immer nicht begriffen.
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Prof. Dr. Ulf Brunnbauer ist Historiker. Er ist Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg.
Ausführlicher Kommentar unter https://ostblog.hypotheses.org/6230
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Wissenschaftlicher Direktor
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