75 Jahre Grundgesetz: MIDEM-Studie untersucht die Einstellung der Deutschen zu ihrer Verfassung
Hohe Akzeptanz und Bereitschaft zur Verteidigung der deutschen Verfassung
Eine repräsentative Studie des Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM) an der TU Dresden zeigt, dass 75 Jahre nach seiner Verkündung das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland weiterhin hohe Zustimmung erfährt. Die Bereitschaft der Deutschen, das Grundgesetz zu verteidigen, ist stark ausgeprägt. Allerdings gibt es soziodemografische und politische Unterschiede in der Akzeptanz. Zudem wird das Grundgesetz in Ostdeutschland und unter Personen mit Migrationshintergrund kritischer gesehen. Auch das allgemeine Vertrauen in politische und gesellschaftliche Institutionen der Verfassungsordnung variiert stark.
Hohe Akzeptanz des Grundgesetzes – doch Anhänger von AfD und BSW zeigen große Unterstützung für neue Verfassung
"Die Ergebnisse unserer Studie verdeutlichen, dass das Grundgesetz auch nach 75 Jahren eine starke Stütze unserer Demokratie bleibt, trotz deutlicher Meinungsverschiedenheiten mit Blick auf die Ränder des politischen Spektrums", sagt Prof. Hans Vorländer, Leiter der Studie und MIDEM-Direktor. 81 Prozent sind der Meinung, das Grundgesetz habe sich bewährt, nur sechs Prozent sind gegenteiliger Auffassung. Allerdings ist die positive Haltung der Deutschen gegenüber dem Grundgesetz nicht in allen Teilen der Gesellschaft gleich stark ausgeprägt. Zwar sprechen sich nur 15 Prozent für eine Totalrevision der Verfassung aus. 68 Prozent lehnen dies ab. In politischer Hinsicht findet sich die stärkste Zustimmung für eine Totalrevision bei der Anhängerschaft der AfD (39 Prozent) aber auch bei der des BSW (31 Prozent). Personen mit Migrationshintergrund sowie Ostdeutsche teilen diese Auffassung häufiger als Westdeutsche.
Diskrepanz zwischen Verfassungsnorm und -realität
Besonders wichtig sind den Deutschen das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die Staatszielbestimmung zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen sowie die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit. Allerdings beobachten sie teilweise eine starke Diskrepanz zwischen Verfassungsnorm und Verfassungsrealität. Besonders schlecht umgesetzt erscheinen ihnen die „Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen“, die „Möglichkeiten direktdemokratischer Beteiligung“ sowie das „Verbot verfassungsfeindlicher Parteien“.
Verteidigungsbereitschaft des Grundgesetzes bei Anhängerschaft der AfD am geringsten
„Die Bereitschaft der Deutschen, für den Erhalt ihrer Verfassung einzutreten, ist insgesamt hoch: 78 Prozent erklären sich bereit, das Grundgesetz gegen verfassungsfeindliche Bestrebungen aktiv zu verteidigen“, so Prof. Hans Vorländer. Unter Frauen, Deutschen mit Migrationshintergrund sowie Personen mit geringem Einkommen fallen diese Werte niedriger aus. Die geringste Bereitschaft zur Verteidigung des Grundgesetzes findet sich unter den Anhängern von AfD und BSW.
Mehrheit befürwortet soziales Pflichtjahr / Bei Wiedereinführung der Wehrpflicht geteilte Meinung
64 Prozent der Befragten sprechen sich für die Einführung eines sozialen Pflichtjahres aus. Besonders hoch ist die Zustimmung in ländlichen Gebieten, bei Personen über 55 Jahren sowie Westdeutschen. Unterstützer:innen finden sich auch parteiübergreifend, vor allem unter den Sympathisanten von CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP, während Anhänger der AfD und der BSW das Pflichtjahr am stärksten ablehnen.
Bei der Wehrpflicht zeigt sich ein geteiltes Bild: 45 Prozent der Befragten befürworten eine Wiedereinführung, während 36 Prozent dagegen sind. Die Unterstützung fällt insbesondere bei jüngeren Menschen, Ostdeutschen und Stadtbewohnern geringer aus. Hingegen sprechen sich vor allem Anhänger konservativer und rechter Parteien wie der CDU/CSU und der AfD für die Wehrpflicht aus, während Sympathisanten der Partei Die Linke und des BSW sie stark ablehnen.
Vertrauen in Institutionen variiert stark in Deutschland – Deutsche mit Migrationshintergrund und Ostdeutsche besonders skeptisch
Das Vertrauen in die politischen und gesellschaftlichen Institutionen in Deutschland ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. Deutsche mit Migrationshintergrund sowie Personen, die in Ostdeutschland sozialisiert wurden, zeigen insgesamt ein geringeres Maß an Vertrauen in die politischen und gesellschaftlichen Institutionen. Das Bundesverfassungsgericht genießt – neben Polizei und Wissenschaft – das größte Maß an Vertrauen. Das Vertrauen in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist eher gering ausgeprägt. Jeder Vierte ist der Meinung, ARD und ZDF würden keine ausgewogene Berichterstattung anbieten. Bundestag und Bundesregierung sowie Medien werden das geringste Maß an Vertrauen entgegengebracht, auch der Bundespräsident hat an Vertrauen verloren. Anhänger der AfD (66 Prozent) und des BSW (53 Prozent) blicken besonders negativ auf den Bundestag.
Ein Drittel der Deutschen neigt zu Verschwörungsdenken gegenüber offiziellen Darstellungen
„Ein besonders hohes Misstrauen gegenüber der Verfassungsordnung zeigt sich in der Bereitschaft, verschwörungstheoretischen Aussagen Glauben zu schenken. Das ist alarmierend“, erläutert Prof. Hans Vorländer. Im Schnitt hegt jeder dritte Deutsche ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber den „staatlichen Stellen“ und zeigt sich für konspirative Erklärungen offen. Dies trifft vor allem für Personen mit niedrigen Bildungsabschlüssen, geringem Einkommen und einer Sympathie für AfD, Freie Wähler oder BSW zu. Die Zustimmungswerte sind bei denen, die in Ostdeutschland aufgewachsen sind, höher als unter Westdeutschen.
Überwiegende Mehrheit sieht Deutschland als Einwanderungsland – Kaum Unterstützung für Abschaffung des Grundrechts auf Asyl
Deutschland wird von über 70 Prozent der Befragten als Einwanderungsland wahrgenommen. Widerspruch findet sich vor allem bei den Anhängern der AfD. Selbst unter ihnen aber sehen zwei Drittel Deutschland als Einwanderungsland. Eine relative Mehrheit von 38 Prozent fordert dennoch, die Zuwanderung nach Deutschland einzuschränken. Eine Streichung des individuellen Grundrechts auf Asyl wird nur von 16 Prozent der Deutschen unterstützt. Als wichtigstes Erfordernis für die Einbürgerung fordern die Deutschen, dass Zugewanderte „die Werte des Grundgesetzes achten und respektieren“.
Zur Studie und Methode
Empirische Grundlage der Studie ist eine Erhebung, die MIDEM in Zusammenarbeit mit dem Institut für angewandte Sozialwissenschaft GmbH (infas) durchgeführt hat. Im Zeitraum vom 1. Februar bis zum 29. Februar 2024 wurden dabei insgesamt 2.989 Personen ab 18 Jahren in Deutschland repräsentativ befragt. In einem Mixed-Mode-Verfahren wurde die Erhebung sowohl telefonisch (CATI, n=813) als auch online (CAWI, n=2.176) durchgeführt. Die telefonische Erhebung basiert auf einer ADM-Zufallsstichprobe, bei der sowohl Festnetz- als auch Mobilfunkanschlüsse berücksichtigt wurden (Dual Frame-Ansatz). Die zufällig gezogenen Onlinebefragten stammen aus einem offline rekrutierten Panel. Eine nachträgliche Gewichtung gleicht Verteilungsunterschiede zwischen der Stichprobe und der Grundgesamtheit aus. Bei der Befragung erhielten die Befragten einen standardisierten Fragebogen, der neue ebenso wie in der Umfrageforschung etablierte Items umfasste, um Einstellungen zu Grundgesetz und Demokratie zu ermitteln. Die meisten Items wurden mit Hilfe einer Fünferskala abgefragt.
Über MIDEM
Das Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM) ist ein Forschungszentrum an der Technischen Universität Dresden, gefördert durch die Stiftung Mercator. MIDEM fragt danach, wie Migration demokratische Politiken, Institutionen und Kulturen prägt und zugleich von ihnen geprägt wird. Untersucht werden Formen, Instrumente und Prozesse politischer Verarbeitung von Migration in demokratischen Gesellschaften – in einzelnen Ländern und im vergleichenden Blick auf Europa.
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