Studie der PFH: Psychische Belastung des Gesundheitspersonals auch nach Pandemie-Ende unverändert hoch
Göttingen. Die psychische Belastung von Fachkräften im Gesundheitswesen ist auch nach der Corona-Pandemie konstant hoch. Besonders Pflegefachkräfte weisen erhöhte Symptome von Stress, Angst und Depression auf. Dabei fühlen sich die Befragten subjektiv am meisten betroffen von strukturellen Problemen wie Personalmangel und unzureichende Wertschätzung. Zu diesem Ergebnis kommt eine wissenschaftliche Studie des Fachbereiches Psychologie der PFH Private Hochschule Göttingen. Die Ergebnisse der Studie wurden kürzlich in der renommierten medizinischen Fachzeitschrift BMJ Open veröffentlicht.
„Die Ergebnisse sind besorgniserregend, auch angesichts des weiter zunehmenden Mangels an Pflegefachkräften“, sagt Prof. Dr. Stephan Weibelzahl, Professor für Psychologie an der PFH und einer der Co-Autoren der Studie. Laut aktueller Berechnungen des Statistischen Bundesamts (Destatis) liegt die Zahl der verfügbaren Pflegekräfte bereits im Jahr 2034 um 90 000 unter dem erwarteten Bedarf. Infolge der Alterung der Gesellschaft werden in Deutschland bis zum Jahr 2049 voraussichtlich zwischen 280.000 und 690.000 Pflegekräfte fehlen.
Für die Studie hat ein Team aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der PFH Göttingen, der Universität Wien und der Fernuniversität Hagen die psychische Gesundheit von Gesundheitsfachkräften in Deutschland und Österreich während der COVID-19-Pandemie über die Jahre 2020 bis 2022 untersucht. Dabei wurden Daten von 421 Fachkräften aus dem Gesundheitswesen mit früheren Umfragen aus den Jahren 2021 (N=639 Befragte) und 2020 (N=300 Befragte) verglichen. Die Ergebnisse zeigen, dass die psychische Belastung des Gesundheitspersonals im Verlauf der Pandemie konstant geblieben ist, ohne Anzeichen von Gewöhnung an die belastende Situation oder die neuen Umstände.
Pflegepersonal am stärksten belastet
„Beim Vergleich der drei Berufsgruppen Ärztinnen und Ärzte, Rettungskräfte und Krankenschwestern sowie -pflegern war in unserer Studie das Pflegepersonal zu jedem Zeitpunkt am stärksten psychisch belastet, d. h. es zeigte deutlich mehr Symptome von Angststörungen und Depression und hatte insgesamt eine schlechtere psychische Gesundheit als die anderen Teilnehmenden, erläutert Dr. Julia Reiter, Co-Autorin der Studie und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Arbeits-, Wirtschafts- und Sozialpsychologie an der Universität Wien. Während beispielsweise 24 Prozent der Ärztinnen und Ärzte von mittleren oder schweren Symptomen von Depression berichteten, waren es bei den Pflegekräften 36 Prozent. Die aktuellen Erkenntnisse der Studie untermauern die Ergebnisse anderer Studien, in denen festgestellt wurde, dass das Pflegepersonal im Vergleich zu anderen Berufsgruppen im Gesundheitswesen stärker belastet ist.
„Dabei waren insbesondere die Symptome von Angst und Depression sowie die psychische Belastung insgesamt bei diesen Fachkräften im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie deutlich erhöht“, so Reiter. Die psychische Belastung der Pflegekräfte hat sich gegenüber den beiden ersten Erhebungen in der Anfangszeit der Pandemie 2020 und 2021 leicht erholt, ist aber nach wie vor auf sehr hohem Niveau. Um die genannten Zahlen besser einschätzen zu können, hilft der Blick auf eine repräsentative Vergleichsstichprobe (N=2512), die vor der Pandemie mit demselben Fragebogeninstrument erhoben wurde: Damals zeigten nur fünf Prozent der Bevölkerung mittlere oder schwere Symptome von Depression.
Hilfe trotz Bedarf nicht in Anspruch genommen
Obwohl die Bereitschaft, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, während des Untersuchungszeitraums gestiegen ist, stehen die begrenzte Verfügbarkeit von Unterstützungsleistungen und Zeitmangel aufgrund hoher Arbeitsbelastung dem Hilfegesuch häufig entgegen. Zudem hatten 42,5 Prozent der Befragten, die so stark psychisch belastet waren, dass sie psychologische Unterstützung benötigten, nicht die Absicht, Hilfe in Anspruch zu nehmen. „Selbst wenn psychologische Unterstützung vorhanden ist, hatten die Beschäftigten aufgrund der höheren Arbeitsbelastung oft keine Zeit, sie in Anspruch zu nehmen“, so Weibelzahl.
Anhaltende strukturelle Probleme im Gesundheitswesen
Die Arbeitsanforderungen, von denen sich die Teilnehmenden subjektiv am stärksten betroffen fühlten, bezogen sich nicht auf die Pandemiesituation, sondern auf existierende strukturelle Probleme. Auf einer Skala von 0 bis 4 bewerteten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer den Personalmangel (Mittelwert M=3,30) und unzureichende Wertschätzung ihrer Arbeit (M=2,96) als besonders beeinträchtigend. Ein weiterer struktureller Faktor, der etwas niedriger (M=2,41), aber immer noch am oberen Ende der Skala rangiert, sind lange Arbeitszeiten. „Dieses Problem ist bis zu einem gewissen Grad ein ständiges Merkmal medizinischer Berufe, wird aber auch durch Personalmangel verschärft, der dazu führt, dass mehr Schichten übernommen werden müssen und während dieser Schichten mehr Aufgaben anfallen“, so Weibelzahl.
Effektive Unterstützungsmaßnahmen der Arbeitgebenden erforderlich
Insgesamt unterstreicht die Studie die dringende Notwendigkeit für Arbeitgebende, effektive Maßnahmen zur Unterstützung der psychischen Gesundheit ihrer Mitarbeitenden zu implementieren und eine unterstützende Arbeitskultur zu fördern. „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die wahrgenommene Arbeitskultur eine Rolle für die psychische Gesundheit und das Hilfesuchverhalten der Mitarbeitenden spielt. Mitarbeitende benötigen eine Kultur, die offene Kommunikation und Anerkennung der Arbeitsbelastung fördert, mit einer geringeren psychischen Belastung verbunden ist und erleichtert, die Hilfe in Anspruch zu nehmen“, sagt Prof. Dr. Weibelzahl. Je positiver die Teilnehmenden die Arbeitskultur in ihrer Organisation bewerteten, desto geringer war ihre psychische Belastung. „Eine positive Arbeitskultur ist auch angesichts des sich weiter verschärfenden Fachkräftemangels dringend geboten“, schlussfolgert Weibelzahl.
Über die Studie
Die Studie wurde von Mitte Juni bis Mitte August 2022 unter Mitarbeitenden des Gesundheitswesens in staatlichen und privaten Einrichtungen des Gesundheitswesens, wie Arztpraxen, Krankenhäusern und Rettungsdiensten, in Deutschland und Österreich online durchgeführt (n=421).
Die Ergebnisse der Studie wurden in BMJ Open veröffentlicht, eine von Experten begutachtete, frei zugängliche medizinische Fachzeitschrift, die sich der Veröffentlichung medizinischer Forschung aus allen Disziplinen und Therapiebereichen widmet. Reiter Julia, Weibelzahl Stephan, Duden Gesa: Would’ve, could’ve, should’ve: a cross-sectional investigation of whether and how healthcare staff’s working conditions and mental health symptoms have changed throughout 3 pandemic years. BMJ Open 2024; https://bmjopen.bmj.com/content/14/3/e076712.info
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Prof. Dr. Stephan Weibelzahl, weibelzahl@pfh.de
Originalpublikation:
https://bmjopen.bmj.com/content/14/3/e076712.info