Chemie überwindet Grenzen
Eine italienische und und eine deutsche Institution teilen sich Auszeichnung „Historischer Meilenstein“ der Europäischen Chemischen Gesellschaft: Das Politecnico in Mailand und das Max-Planck-Institut für Kohlenforschung in Mülheim an der Ruhr werden mit dem "Historical Landmark Award" ausgezeichnet.
Es war am 10. Dezember des Jahres 1963, als zwei herausragende Chemiker aus Italien und Deutschland gemeinsam auf der Bühne des Stockholmer Konzerthauses standen. Giulio Natta und Karl Ziegler erhielten an diesem Tag den Nobelpreis für Chemie für ihre Arbeiten über Polymere, die „den Weg für neue und äußerst nützliche industrielle Verfahren ebneten“. Mit anderen Worten: Mit ihrer Pionierarbeit auf dem Gebiet der Katalyse hatten die beiden Wissenschaftler nichts Geringeres als das Zeitalter der Kunststoffe eingeleitet.
Während diese höchste Anerkennung der wissenschaftlichen Gemeinschaft ihnen in Schweden zuteilwurde und die Auswirkungen ihrer Entdeckungen auf der ganzen Welt eine Rolle spielten, so waren es ihre jeweiligen Labore in Italien und Deutschland, in denen Natta und Ziegler entscheidende Experimente durchführten. Das eine ist die „Giulio Natta“-Abteilung für Chemie, Werkstoffe und Verfahrenstechnik am Politecnico in Mailand und das Max-Planck-Institut für Kohlenforschung in Mülheim an der Ruhr.
Nun, mehr als 60 Jahre nach der gemeinsamen Nobelpreisverleihung an Natta und Ziegler, hat die Europäische Chemische Gesellschaft (EuChems) beide Standorte als sogenannte "Historical Landmark" (Historische Stätte) ausgezeichnet. Mit dieser Auszeichnung möchte die EuChems darauf hinweisen, dass sowohl Mailand als auch Mülheim Orte sind, die für die europäische Chemiegemeinschaft von besonderer Bedeutung sind und beide eben durch die chemischen Errungenschaften Nattas und Zieglers ein Gefühl der europäischen Zugehörigkeit vermitteln. Die Forschungsgruppen von Natta und Ziegler waren durch ihre sowohl kooperativen als auch konkurrierenden Arbeiten eng miteinander verbunden. Bis heute ist das „Ziegler-Natta.Verfahren“ ein bekannter Begriff unter Chemiestudierenden. Und der Einfluss der beiden Wissenschaftler auf unser tägliches Leben ist immer noch immens, wie die EuChems unterstreicht. Wie kommt das?
Synthetische Polymere, also Kunststoffe, gab es zwar schon seit Ende des 19. Jahrhunderts. Doch sie waren noch nicht von großem Interesse für die chemische Industrie. Ihre Materialeigenschaften waren teils unbefriedigend, ihre Herstellung oft teuer und nur unter hohem Druck möglich. Karl Zieglers Forscherteam entdeckte 1953, dass metallorganische Verbindungen die Herstellung von Polyethylen ohne hohen Druck und hohe Temperatur katalysieren können, was zu Polyethylen hoher Dichte führte. Diese Art von Polyethylen erwies sich aufgrund seiner besseren Eigenschaften und der wirtschaftlicheren Herstellung als deutlich besser als die zuvor hergestellten Produkte. Natta wiederum weitete die von Ziegler durchgeführten Forschungen auf die stereospezifische Polymerisation aus und entdeckte so neue Klassen von Polymeren. Diese Studien führten zur Herstellung eines thermoplastischen Materials, das bald erfolgreich als Kunststoff für Fasern und Folien vermarktet wurde.
Die Entdeckung der Ziegler-Natta-Katalysatoren und der daraus resultierenden neuen Polymere war für die chemische Forschung, die Industrie und das tägliche Leben weltweit bahnbrechend, mit besonderen Folgen für die italienischen Nachwuchsforscher im ganzen Land, betont die italienische Chemische Gesellschaft SCI in einer Stellungnahme, und schreibt weiter: Die nachhaltige Wirkung der Leistungen der Professoren Ziegler und Natta reicht weit über Deutschland und Italien hinaus und liefert weiterhin bedeutende Beiträge zur Polymerisationskatalyse, zur Polymerwissenschaft und zur Polymerindustrie, wobei heutzutage ein besonderer Schwerpunkt auf der Schaffung einer vollständig nachhaltigen Polymerindustrie liegt.
„Wir freuen uns sehr, dass EuChems die Arbeitsstätten von Giulio Natta und Karl Ziegler in das wichtige Programm der Historischen Orte aufgenommen hat“, erklärt Prof. Dr. Sabine Becker, Vizepräsidentin der GDCh. „Natta und Ziegler haben in Mailand und Mülheim herausragende und bahnbrechende chemische Leistungen auf dem Gebiet der Polymerwissenschaften erbracht, von denen die gesamte Gesellschaft noch heute enorm profitiert.“
„Stereoreguläre Polymere gab es bereits zur Zeit der Entdeckungen der Professoren Ziegler und Natta in der Natur, zum Beispiel Cellulose und Naturkautschuk. Wie anlässlich der Verleihung des Nobelpreises festgestellt wurde, haben die Forschungen von Prof. Natta das Monopol der Natur auf die Synthese stereoregulärer Polymere mit hohem Ordnungsgrad gebrochen. Isotaktisches Polypropylen ist das bekannteste Beispiel dafür und heute das am meisten verwendete Polymer. Die wissenschaftliche und technologische Revolution, die durch die Ziegler-Natta-Katalyse ausgelöst wurde, hat zu immensen Fortschritten geführt", erklärt Marinella Levi, Direktorin des Fachbereichs Chemie, Werkstoffe und Chemieingenieurwesen „G. Natta“. Das Vermächtnis der Professoren Ziegler und Natta und ihrer Schulen ist von grundlegender Bedeutung für die Gestaltung unserer Zukunft, die von der Nachhaltigkeit der Polymermaterialien inspiriert sein muss.
„Wir sind sehr stolz auf das Erbe von Karl Ziegler, ohne den unser Institut in Mülheim nie zu der Größe herangewachsen wäre, die wir heute kennen“, sagt Prof. Frank Neese, Geschäftsführender Direktor am Max-Planck-Institut für Kohlenforschung. Ziegler war mit seinen bahnbrechenden Arbeiten auf dem Gebiet der organischen Chemie einer der Begründer der metallorganischen Chemie und insbesondere der metallorganischen Katalyse. Sein Patent zur Herstellung von hochmolekularem Polyethylen bei Normaldruck und Raumtemperatur mit Hilfe von metallorganischen Katalysatoren aus Aluminiumalkyl- und Übergangsmetallverbindungen setzte eine Innovationskette in Gang, die zur raschen Entwicklung der großtechnischen Herstellung von Polyolefinen führte.
Das Zeitalter der Kunststoffe brachte nicht nur unzählige nützliche Anwendungen für synthetische Polymere mit sich. Heute ist die Menschheit mit der noch immer unkontrollierten Entsorgung von Kunststoffabfällen konfrontiert. Die beiden historischen Meilensteine könnten eine perfekte Gelegenheit sein, der breiten Öffentlichkeit die ökologische Nachhaltigkeit von Polymeren vor Augen zu führen und den modernen Beitrag der Chemie zur Kreislaufwirtschaft zu unterstreichen.
Originalpublikation:
https://www.magazine.euchems.eu/historical-landmarks-altafulla-mulheim-and-milan/