Drittes Forschungskolloquium zur Pädagogik und Anthroposophie im Jugendalter an der Freien Hochschule Stuttgart
„Was brauchen die jungen Leute heute wirklich, wie können wir sie gut begleiten, dass sie ihren Weg finden?“ Angesichts der vielen Krisen, die Jugendliche heute durchlaufen, und die aktuelle Studien immer wieder aufdecken, erscheint diese so grundlegende Frage in einer hochaktuellen Brisanz. Die junge Lehrerin Lisa van Holsteijn stellte sie zu Beginn ihres Erfahrungsberichtes zu ihrem Unterricht mit psychisch schwer geschädigten Jugendlichen in den Raum.
Zum dritten Mal hatte die Freie Hochschule Stuttgart zu einem Forschungskolloquium anthroposophischer Jugendpädagogik unter der Leitung von Dozent Philipp Kleinfercher eingeladen.
Austausch, Inspiration, Information - angesprochen waren wieder Lehrerinnen und Lehrer sowie Dozierende der Lehrer*innenausbildung aus verschiedenen Fachbereichen und den verschiedensten Waldorfschulen, nicht nur aus Deutschland. Die rund 20 Teilnehmer und Teilnehmerinnen kamen u.a. aus Thüringen, Bayern oder Wien.
Das diesjährige Stuttgarter Forschungskolloquium stand unter dem Zeichen eines 100jährigen Jubiläums. 1924 erwähnte Rudolf Steiner erstmals den Begriff einer Jugendanthroposophie in einer Konferenz mit den Lehrerinnen und Lehrern der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe in Stuttgart. Im Anschluss daran gründete sich die Jugendsektion der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum in Dornach. Philipp Kleinfercher wies in seinem Begrüßungsvortrag auf eine von Steiner damals initiierte Umfrage hin, die die Jugendsektion am Goetheanum kurz vor der Corona - Pandemie noch einmal aktualisiert aufgegriffen und weltweit gestartet hatte: „Wie würde die Welt im Jahr 2030 aussehen, wenn das, was in mir lebt, Realität werden soll und was kann ich tun, damit dies stattfindet?“ So individuell gefärbt die Antworten auch damals in Bezug zum konkreten Lebensumfeld waren – was allen gemeinsam war, war ein Grundmotiv als Handlungsgrundlage, an das Karoline Kopp, Oberstufenlehrerin an der Waldorfschule in Landsberg am Lech, mit ihrem Vortrag über ökonomische Bildung nahtlos anschloss: Sinnhaftigkeit und die Erfahrung der Selbstwirksamkeit. Um sich als junger Menschen handlungsfähig zu machen, angefangen von einer Förderung einer nachhaltigen Naturverbundenheit und eines Resonanzerlebens mit Blick auf Umwelt und Gesellschaft, braucht es neben dem gedanklichen Erarbeiten praktische Arbeits- und Übfelder. Die intrinsische Motivation von Schülerinnen und Schülern basiert letztlich auf dem individuell geweckten Willen. „Es geht heute mehr denn je um die Frage nach einer innerseelischen Aktivierung“, unterstrich auch Kleinfercher in diesem Zusammenhang.
„Sozio-Ökonomische Bildung, eine ignorierte Kernaufgabe an Waldorfschulen“ war der Titel des Beitrages von Karoline Kopp. Ein engagiertes Plädoyer für ein verbindliches Curriculum in Ökonomie. Anhand von radikalen Beispielen des Marktliberalismus zeigte sie die Notwendigkeit von Aufklärung durch Bildung auf. Anhand von Unterrichtskonzepten machte sie deutlich, wie sich der Unterricht in Wirtschaft und Recht in die Lebenswirklichkeit von Schülerinnen und Schülern einfügen lassen kann. Die eigenen Lebensumstände durchschauen, um sie gestaltbar zu machen: „Im Zentrum steht dabei der Gedanke, dass sich Bildung in der Erweiterung und Transformation der je eigenen Weltsicht durch Konfrontation mit der Außenwelt in einer dialogischen Auseinandersetzung vollzieht“, sagte Kopp.
Ein Gedanke, an den auch der Vortrag von Joachim Knecht, Oberstufenlehrer aus Berlin, anschloss. „Gebaute Sinnbilder für Vergangenheit und Zukunft – pädagogische Möglichkeiten der Architekturbetrachtung“ war seine Überschrift, unter der er seinen Unterricht einer Architekturepoche in der 12. Klasse schilderte. Unterrichtsexkursionen mit intensiver Architekturbetrachtung, fachlicher und kunsthistorischer Theorieteil, Praxiserfahrung am konkreten, eigenen Entwurf einer Wohnungseinteilung: „So eine Architekturepoche bietet die Chance menschenkundlicher Erschütterungsmöglichkeiten“, schmunzelte Knecht. Denn ohne Vorerfahrung, ohne Erwartung und vor allem ohne die selbstzensierende Frage nach dem eigenen Können und Vermögen würden sich die Jugendlichen auf ein Thema einlassen, das letztlich ihren Alltag schon immer beherrscht hat und das sie jetzt wahrzunehmen und zu hinterfragen lernen würden. „Dieser Unterricht soll Lust darauf machen, selber schöpferisch in die Welt einzugreifen“, unterstrich der engagierte Pädagoge.
Welche zentrale Rolle Wahrnehmung und Übung im digitalen Zeitalter spielt, machten nicht nur die Diskussionen zwischen den verschiedenen Vorträgen deutlich, sondern auch der Vortrag von Dr. Robert Neumann, Dozent am Lehrstuhl für Medienpädagogik der Freien Hochschule Stuttgart, der sich mit der Wirkung elektronischer Medien auf die Aufmerksamkeitsspanne von Jugendlichen befasste. Alle anwesenden Lehrerinnen und Lehrer berichteten von ihren Erfahrungen, wie dankbar Jugendliche Übungen zu innerer Sammlung, zu Rhythmus und innerer Gerichtetheit annehmen würden. Dabei wurde deutlich, dass man auch innerhalb des Forschungskolloquiums diesen Fundus miteinander teilen möchte. Die musikalischen Übungen, die Hochschuldozent Alexander Kölble zur Einstimmung in die beiden Kolloquiumstage anleitete, gaben dem Wunsch nach eigener Erfahrungssammlung Nahrung. Und so soll das Forschungskolloquium im kommenden Jahr deutliche Schwerpunkte in dieser Richtung setzen.
„Atmen lernen – auf der Suche nach sich selbst im Jugendalter“ hatte Lisa van Holsteijn ihren Beitrag überschrieben, in dem sie in tief berührender Weise ihren Unterricht mit Jugendlichen schilderte, deren bisherige Lebenserfahrungen sie psychisch schwer geschädigt zurückgelassen haben. Unterricht mit neun Schülerinnen und Schüler, die letztlich ohne staatlichen Abschluss die Schule verlassen werden. „Die Themen dieser jungen Menschen sind stellvertretend für das, was unsere Gesellschaft bewegt“, unterstrich sie. Vertrauen schaffen, echte Begegnung ermöglichen, tiefe Aufrichtigkeit vermitteln, das Gefühl von Selbstwirksamkeit ermöglichen – „hier darf ich viel lernen“, sagte Holsteijn.
Ende dieses Jahres ist ein erster Sammelband mit ausgewählten Beiträgen der ersten drei Forschungskolloquien, herausgegeben von Philipp Kleinfercher, geplant.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Kleinfercher, Philipp kleinfercher@freie-hochschule-stuttgart.de