HoF-Publikation: Beziehungsgeschichte: Die Universität Halle-Wittenberg und die Stadt Wittenberg seit 1817
Seit reichlich zwei Jahrhunderten trägt die hallesche Universität „Halle-Wittenberg“ im Namen: 1817 war die Universität Wittenberg LEUCOREA (gegr. 1502) in die heutige Martin-Luther-Universität (gegr. 1694) überführt worden. Ist die doppelte Ortsangabe „Halle-Wittenberg“ nur eine historische Reminiszenz? Oder hatte und hat sie auch praktische Bedeutungen? Die wechselhafte Beziehungsgeschichte der heutigen MLU und der Stadt Wittenberg wird nun erstmals nachgezeichnet.
Die Universitätsgeschichte hat mancherlei Beziehungen zwischen Orten zustandegebracht, die ohne die jeweiligen Hochschulen wohl nie auf die Idee gekommen wären, dass sie etwas miteinander zu tun haben sollten – Koblenz und Landau zum Beispiel oder Erlangen und Nürnberg. Doch meist ging bzw. geht das mit unmittelbarer Anwesenheit an beiden Orten einher. Wie verhält es sich, wenn diese Randbedingung nicht gegeben ist?
Seit ihrer Gründung 1694 hatte sich die hallesche Universität als Gegenpart zur damals lutherisch-orthodoxen Hochburg Wittenberg verstanden. Nachdem 123 Jahre später die LEUCOREA aufgehoben worden war, wurde die heutige Martin-Luther-Universität in ihrer Selbstwahrnehmung zur zentralen Nachfolgeeinrichtung der Wittenberger Universität (daneben gab es weitere unmittelbare Nachfolgeeinrichtungen: die Königliche Universitätsverwaltung zu Wittenberg und das Evangelische Predigerseminar Wittenberg, spätere Gründungen beziehen sich gleichfalls auf die LEUCOREA). Denn obgleich sich am Ende die Universität Wittenberg de facto aufgelöst fand, war der Vorgang de jure doch als Integration in die Hallesche Universität vollzogen worden.
Durch diese Integration entstand der nicht existierende ‚Ort‘ Halle-Wittenberg. Die Halle-Wittenberger Beziehung entfaltete und entfaltet sich seither in vier Dimensionen: symbolisch, finanziell, strukturell und inhaltlich. Diese werden hier nun erstmals aus den Quellen rekonstruiert:
• Zunächst finden sich die Begünstigungen, welche die Universität Halle aus der Vereinigung mit Wittenberg gezogen hat, kompakt dargestellt: Vermögenswerte, Sammlungen und symbolisches Kapitel.
• Sodann werden die halleschen Bewirtschaftungen der Wittenberger Namen und Ereignisse in den Jahren 1817 bis 1945 geschildert: Die preußische ‚Lutherisierung‘ Wittenbergs im 19. Jahrhundert fand im 20. Jahrhundert ein Echo in Halle, als das Wittenberger Erbe qua „Hallescher Lutherrenaissance“ bis hin zur Namensgebung „Martin-Luther-Universität“ hochschulpolitisch genutzt wurde, um den gefährdeten Bestand der Universität zu sichern.
• Es folgen die Entwicklungen in den DDR-Jahrzehnten, die zwei verschiedene Phasen der politischen Reformationsgeschichtsbehandlung sahen, was auch das Verhältnis der halleschen Universität zu Wittenberg prägte: Nach einer höchst kritischen Betrachtung der Reformation setzt sich ab 1967 eine Versachlichung durch, wozu das Konzept der Frühbürgerlichen Revolution entwickelt wurde, das gelungene Reformation und gescheiterten Bauernkrieg zusammenbrachte und beide aufeinander bezog.
• Schließlich wird all das verhandelt, was sich seit der deutschen Vereinigung 1990 mit „Halle-Wittenberg“ verband und verbindet: die Gründung der Stiftung Leucorea und ihre wechselhafte Entwicklung, die nochmals intensivierte Jubiläumsdichte und das Engagement einzelner Personen.
Ein Fazit zieht unter dem Titel „Keine durchglühte Beziehung, aber gelegentliches Interesse füreinander“ eine Bilanz. Nur Traditionsmythologie trage, wie die zurückliegenden zwei Jahrhunderte zeigten, auf Dauer keine Kooperationen. Deutlich wird, dass und wie sich die Beziehungsgeschichte von Universität Halle und Stadt Wittenberg seit der Universitätenvereinigung 1817 unter höchst unterschiedlichen politischen Rahmenbedingungen entfaltete: Preußen und Kaiserreich, Weimarer Republik, NS-Regime, DDR und vereinigtes Deutschland. Ebenso deutlich wird, dass die Beziehungspflege zwischen einer Universität als Organisation und einer Stadt als Gebietskörperschaft nicht umstandslos funktioniert. Organisationen haben Interessen; Gebietskörperschaften benötigen Organisationen, die Interessen Ausdruck verschaffen können. Die Beziehungsgeschichte verlangte (und verlangt) manche organisatorische und inhaltliche Pirouette, regte aber auch ertragreiche Arbeiten und Aktivitäten an.
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Prof. Peer Pasternack, Email: peer.pasternack@hof.uni-halle.de
Originalpublikation:
Peer Pasternack: Lose gekoppelt. Die Universität Halle-Wittenberg und die Stadt Wittenberg seit 1817: eine Beziehungsgeschichte, unt. Mitarb. v. Daniel Watermann, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2023, 332 S.
Inhaltsverzeichnis und Leseprobe: https://www.hof.uni-halle.de/web/dateien/pdf/Pasternack_Uni-Halle-WB_Inhaltsverz-u-Leseprobe.pdf
Weitere Informationen:
https://www.campus-halensis.de/artikel/lose-gekoppelt/ - Peer Pasternack (Interview): Halle und Wittenberg: Zwischen Jubiläumsfeiern und Phantomschmerzen, in: Campus halensis, 2.5.2024