Was ist „Zeit“ für Quantenteilchen? - Veröffentlichung von TU-Forschern in „Science Advances“
Darmstadt, 16. Mai 2024. Bei einem verblüffenden Phänomen der Quantenphysik, dem sogenannten Tunneln, scheinen sich Teilchen schneller als mit Lichtgeschwindigkeit zu bewegen. Darmstädter Physiker glauben jedoch, dass die Zeit, die die Teilchen zum Tunneln brauchen, bisher falsch gemessen wurde. Sie schlagen eine neue Methode vor, um die Geschwindigkeit von Quantenteilchen zu stoppen.
In der klassischen Physik gibt es harte Regeln, die sich nicht umgehen lassen. Wenn zum Beispiel ein rollender Ball nicht genug Energie hat, wird er über einen Hügel nicht hinwegkommen, sondern vor dem Gipfel umkehren und zurückrollen. In der Quantenphysik ist dieses Gesetz nicht ganz so streng: Ein Teilchen kann eine Barriere hinter sich lassen, auch wenn seine Energie dafür nicht reicht. Es wirkt, als würde es durch einen Tunnel schlüpfen, weshalb das Phänomen auch „Tunneleffekt“ heißt. Was magisch klingt, hat handfeste technische Anwendungen, etwa in Flash-Speichermedien.
Für Aufsehen sorgten in der Vergangenheit Experimente, bei denen Teilchen schneller als das Licht tunnelten. Doch Einsteins Relativitätstheorie verbietet Überlichtgeschwindigkeit. Es fragt sich also, ob die für das Tunneln benötigte Zeit in diesen Experimenten richtig „gestoppt“ wurde. Die Physiker Patrik Schach und Enno Giese von der TU Darmstadt haben sich überlegt, wie man „Zeit“ für ein tunnelndes Teilchen überhaupt definiert. Sie schlagen nun eine neue Methode vor, diese Zeit zu messen. In ihrem Experiment messen sie sie auf eine Weise, die aus ihrer Sicht besser zur Quantennatur des Tunnelns passt. Den Entwurf ihres Experimentes haben sie im renommierten Wissenschaftsmagazin „Science Advances“ veröffentlicht.
Winzige Teilchen wie Atome oder Lichtteilchen haben laut Quantenphysik eine Doppelnatur. Je nach Experiment verhalten sie sich wie Teilchen oder wie Wellen. Beim Tunneleffekt zeigt sich die Wellennatur von Teilchen. Auf die Barriere rollt ein „Wellenpaket“ zu, einem Schwall Wasser vergleichbar. Die Höhe der Welle gibt an, mit welcher Wahrscheinlichkeit das Teilchen sich an diesem Ort materialisieren würde, wenn man seinen Aufenthaltsort misst. Trifft das Wellenpaket auf eine Energiebarriere, wird ein Teil davon reflektiert. Ein kleiner Teil davon durchdringt die Hürde jedoch. Nun gibt es eine kleine Wahrscheinlichkeit, dass das Teilchen jenseits des Hindernisses auftaucht.
Bisherige Experimente wollen festgestellt haben, dass ein Lichtteilchen nach dem Tunneln einen weiteren Weg zurückgelegt hat, als eines, das freie Bahn hatte. Es wäre also schneller als das Licht gereist. Doch dazu mussten die Forscher den Ort definieren, an dem das Teilchen nach der Passage ist. Sie wählten den höchsten Punkt seines Wellenpakets.
„Das Teilchen folgt aber keiner Bahn im klassischen Sinne“, wendet Enno Giese ein. Wo das Teilchen sich zum Zeitpunkt X aufhält, lässt sich nicht eindeutig sagen. Das macht es schwierig, Aussagen über die von A nach B benötigte Zeit zu treffen.
Schach und Giese hingegen orientieren sich an einem Zitat Albert Einsteins: „Zeit ist das, was man an der Uhr abliest“. Sie schlagen vor, das tunnelnde Teilchen selbst als Uhr zu nutzen. Ein zweites Teilchen, das nicht tunnelt, dient als Referenz. Durch Vergleich der beiden natürlichen Uhren lässt sich feststellen, ob das Tunneln langsamer, schneller oder gleich schnell vergeht.
Die Wellennatur von Teilchen kommt diesem Ansatz entgegen. Das Schwingen von Wellen ähnelt dem Pendeln einer Uhr. Konkret schlagen Schach und Giese vor, Atome als Uhren zu nutzen. Die Energieniveaus von Atomen schwingen mit bestimmten Frequenzen. Nach Bestrahlen mit einem Laserpuls schwingen diese Niveaus zunächst im Gleichtakt – die Atomuhr wird gestartet. Während des Tunnelns aber verschieben sich die Takte geringfügig. Durch einen zweiten Laserpuls werden die beiden internen Wellen des Atoms zur Interferenz gebracht. So lässt sich messen, wie weit die beiden Wellen der Energieniveaus auseinandergelaufen sind, was wiederum ein präzises Maß für die vergangene Zeit ist.
Ein zweites Atom, das nicht tunnelt, dient als Referenz, um den Zeitunterschied zwischen Tunneln und Nicht-Tunneln zu messen. Berechnungen der beiden Physiker lassen erwarten, dass das tunnelnde Teilchen eine geringfügig spätere Zeit anzeigen wird. „Die Uhr, die getunnelt ist, ist etwas älter als die andere“, formuliert es Patrik Schach. Das scheint Experimenten zu widersprechen, die dem Tunneln Überlichtgeschwindigkeit zusprachen.
Im Prinzip sei der Test mit heutiger Technologie durchführbar, sagt Schach, aber eine große Herausforderung für Experimentatoren. Denn der zu messende Zeitunterschied beträgt nur rund 10-26 Sekunden – eine extrem kurze Zeit. Es helfe, statt einzelner Atome ganze Atomwolken als Uhren zu nutzen, erklärt der Physiker. Möglich sei es auch, den Effekt zu verstärken, etwa durch künstlich erhöhte Uhrenfrequenzen. „Derzeit diskutieren wir mit experimentellen Kollegen und sind mit unseren Projektpartnern im Kontakt“, ergänzt Giese. Gut möglich, dass sich ein Team bald entschließt, dieses sehr spannende Experiment durchzuführen.
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MI-Nr. 18/2024, Christian J. Meier/mih
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Patrik Schach M. Sc.
Arbeitsgebiet Materiewellenoptik
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Originalpublikation:
https://doi.org/10.1126/sciadv.adl6078