Auslandsstudium in Tokio: Emerging Technologies zwischen Kirschblüte und Schneefestival
In ihrem zweiten Auslandssemester in Tokio macht die Coburger Studentin Marie Stengel noch einmal ganz neue Erfahrungen. Sie lernt Land, Leute und Kultur besser kennen und gewinnt neue fachliche Perspektiven: Energietechnologien, das Thema, das sie besonders interessiert, wird global teilweise unterschiedlich angegangen – die Welt braucht Physiker und Physikerinnen, die über den Tellerrand blicken. Das lernen sie im Coburger Bachelor-Studiengang „Emerging Technologies“, in dem ein Auslandsjahr grundsätzlich dazu gehört.
Elektrizität aus der Tiefe des Meeres zu gewinnen, ist keine sehr verbreitete Methode. Erst recht nicht in Oberfranken. Studentin Marie Stengel hat sich trotzdem intensiver damit beschäftigt: An der Hochschule Coburg studiert sie „Emerging Technologies“, absolviert gerade ihr Auslandsjahr in Tokio und erlebt nicht nur japanische Kultur und Lebensart, sondern lernt auch, fachliche Grenzen zu überschreiten. Im Kurs „Material for Energies“ suchte sie sich das Meereswärmekraftwerk als Arbeitsthema heraus. „Das ist faszinierend, mal was ganz anderes: ein Kraftwerk, das mit dem Temperaturunterschied der Meeresschichten arbeitet.“
In der Tiefe ist das Wasser eisig, aber an der Oberfläche ist es warm, besonders in tropischen Regionen wie Hawaii, wo seit etwa 20 Jahren eine Testanlage betrieben wird. Auch in Japan beschäftigen sich Forscherinnen und Forscher mit der Technologie. Ocean thermal energy conversion (OTEC) wird das Kreislaufprinzip aus Verdampfung, Abkühlung und Verflüssigung genannt, das im OTEC-Kraftwerk eine Turbine antreibt. „Das wäre zum Beispiel für die Malediven spannend, wo Strom immer noch mit Dieselgeneratoren erzeugt wird“, erklärt die Coburger Studentin mit Blick auf globale Herausforderungen. „Die Technologie hat natürlich auch Nachteile, vor allem in Bezug auf die Folgen für das Ökosystem gibt es viele offene Fragen.“ Im vierten Semester beeindruckt Marie Stengel aber vor allem erst einmal, wie viele verschiedene Methoden es überhaupt auf der Welt gibt, Energie zu erzeugen. Sie grinst: „Das ist einfach ziemlich cool!“
So individuell ist Physik
Meereswärmekraftwerk, Quantenmechanik und Nuklearenergie, Nanotechnologie und Supraleiter: Was Marie Stengel cool findet, wird teilweise auch an der Hochschule Coburg gelehrt, aber manches eben auch nicht. Ein Problem ist das nicht. Im Gegenteil: Die Studierenden sollen die Möglichkeit haben, im Ausland etwas anderes zu lernen, den Blick zu weiten und individuelle Schwerpunkte zu setzen. „Im ersten Semester kommen sie erst mal bei uns in Coburg an. Im zweiten haben wir ein Orientierungscolloquium“, erklärt Studiengangsleiterin Prof. Dr. Ada Bäumner. „Da legen wir ein bisschen einen roten Faden, wie das Studium verlaufen soll. Man hat bei uns eben diese großen Wahlmöglichkeiten – aber die muss man erstmal ja auch kennenlernen.“
Zusätzlich zu den klassischen Fächern Mathematik, Informatik, Chemie und Physik können sich Studierende ab dem dritten Semester ihren Stundenplan individuell zusammenstellen. Das gilt im Bachelor-Studiengang Zukunftstechnologie in Coburg, wo beispielsweise auch Fächer aus dem Maschinenbau, dem Design oder der Elektrotechnik möglich sind. Emerging Technologies ist der international ausgerichtete Studienzweig von Zukunftstechnologien und wer sich dafür entscheidet, verbringt das dritte und vierte Semester an einer der Partnerhochschulen: der University of Shanghai for Science and Technology in China, der Universität Twente in den Niederlanden, der Universität Winnipeg in Kanada oder dem Shibaura Institute of Technology (SIT) in Japans Hauptstadt Tokio. Mit dem SIT wurde erst vergangenes Jahr eine Kooperation vereinbart und Stengel ist die erste Studierende aus Coburg, die ihr Auslandsjahr in Tokio verbringt.
Seit September lebt die 25-Jährige in der größten Stadt der Welt, tauscht sich aber auch regelmäßig mit den Physik-Profs in Coburg aus. Gerade spricht sie in einem Videotelefonat mit Studiengangsleiterin Prof. Dr Ada Bäumner und Prof. Dr. Michael Wick, der sich als Auslandsbeauftragter seit mehreren Jahren um den internationalen Austausch kümmert. Er leitete lange den internationalen Masterstudiengang Analytical Instruments, Measurement and Sensor Technology (AIMS) der Hochschule Coburg und den Bachelor-Studiengang Technische Physik - Engineering Physics, einen Schwesterstudiengang zu Emerging Technologies. Als Stengel von ihren Reisen in den langen japanischen Semesterferien erzählt, gesteht Wick: „Ich bin ein bisschen neidisch.“ Die Studentin lächelt. Sie genießt ihr Auslandsjahr. „Japan ist echt ein sehr faszinierendes Land. Man kann hier alles finden.“ Sie erzählt von wunderschönen Eis-Figuren beim Schnee-Festival in Sapporo und von der Kirschblüte, vom skurrilen Kanamara-Fest zu Ehren des Phallus in Kawasaki und dem bayerisch-bierseligen Oktoberfest in Yokohama. „Ich bin wirklich sehr dankbar, dass ich die Chance hatte, hierher kommen zu dürfen.
International vernetzt
Über das International Office der Hochschule Coburg bekam Marie Stengel ein Stipendium des Bayerischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst und sie muss dank der Kooperation auch nicht die am SIT üblichen hohen Studiengebühren bezahlen. Vor Ort in Tokio half ihr die Partnerhochschule auch, Kontakte zu den anderen internationalen Studierenden zu knüpfen. Sie kommen aus Amerika, Frankreich, Italien, Thailand, Indien, Tschechien … Und alle sprechen Englisch – jeweils auf ihre Weise. Bei den Japanerinnen und Japanern klingt es schon deshalb anders, weil sie die für uns Deutsche so unterschiedlich klingenden Laute „r“ und „l“ identisch benutzen. „Bei so einem Wort wie Marylin sprechen sie entweder beides als ,r‘ oder beides als ,l‘.“ Stengel lacht: „Am Anfang war das echt ein Schock. Aber man gewöhnt sich daran. Mit der Zeit lernt man, jeden zu verstehen.“
Nebenbei erwirbt sie im Studium das, was „interkulturelle Kompetenz“ genannt wird. Verständnis für andere Kulturen und einen frischen Blick auf die eigene. „Ich habe in der ganzen Zeit in Japan nie einen Menschen schreien hören. Keine Leute, die sich streiten, in der Bahn ist es leise und ein Busfahrer würde nie losfahren, bevor alle sitzen. Als Frau, die allein reist, hatte ich keine einzige unangenehme Situation. Die ganze Bevölkerung geht so respektvoll miteinander um, im Vergleich dazu sind wir in Deutschland schon ziemlich – “, sie spricht den Satz nicht zu Ende, schüttelt nur den Kopf.
Wie es für sie in Deutschland, in Coburg weitergeht, weiß sie noch nicht genau. „Für mich ist klar, dass Grundlagenforschung in der Physik nicht so mein Ding ist. Eher etwas anwendungsbezogenes.“ Wahrscheinlich im Bereich Energie. Sie interessiert Kernphysik, eines der Themen, die Prof. Wick an der Fakultät Angewandte Naturwissenschaften und Gesundheit lehrt, aber auch das große Feld der erneuerbaren Energien, mit denen sich die Nachbarfakultät Elektrotechnik und Informatik beschäftigt. Wenn sie sich weiter für Ocean thermal energy conversion (OTEC) begeistert, findet sie in Coburg vielleicht den besten Input an der Fakultät Maschinenbau und Automobiltechnik, wo es auch um Strömungsdynamik geht. All das ist möglich. „Da braucht man nur ein bisschen Kreativität, ein bisschen Flexibilität“, sagt Prof. Bäumner. Auch das vermittelt der Studiengang – und vielleicht ist es das Wichtigste, was Physiker und Physikerinnen für die Themen des 21. Jahrhunderts lernen müssen.
Text: Natalie Schalk