Ein Plädoyer für mehr Freiraum: 75 Jahre Grundgesetz oder warum es nicht sinnvoll ist, alles regeln zu wollen
Eine aktuelle Einordnung von Staatsrechtler Prof. Ulrich Fastenrath, Leiter der Forschungsstelle für Völkerrechts- und Staatstheorie an der TU Dresden
„Verfassungen müssen kurz und dunkel sein.“ Dieser Satz wird Napoleon zugeschrieben; von einem autoritären Herrscher wird man auch nichts anderes erwarten: Er scheut rechtliche Bindungen. Das ist gewiss keine Vision für die demokratisch und rechtsstaatlich organisierte Bundesrepublik Deutschland. Dennoch steckt in diesem Satz ein Körnchen Wahrheit auch für die deutsche Verfassung: das vor 75 Jahren am 23. Mai 1949 verkündete und tags darauf in Kraft getretene Grundgesetz.
Eine aktuelle Einordnung von Staatsrechtler Prof. Ulrich Fastenrath, Leiter der Forschungsstelle für Völkerrechts- und Staatstheorie an der TU Dresden
„Verfassungen müssen kurz und dunkel sein.“ Dieser Satz wird Napoleon zugeschrieben; von einem autoritären Herrscher wird man auch nichts anderes erwarten: Er scheut rechtliche Bindungen. Das ist gewiss keine Vision für die demokratisch und rechtsstaatlich organisierte Bundesrepublik Deutschland. Dennoch steckt in diesem Satz ein Körnchen Wahrheit auch für die deutsche Verfassung: das vor 75 Jahren am 23. Mai 1949 verkündete und tags darauf in Kraft getretene Grundgesetz.
Verfassungen sind auf lange Dauer angelegt und sollten sich auf das Wesentliche beschränken. Sie konstituieren den Staat und können nur unter erschwerten Bedingungen mit besonderen Mehrheiten geändert werden. Gleichzeitig müssen Verfassungen wandlungsfähig sein, um auch veränderten Gegebenheiten und Einstellungen Rechnung tragen zu können. Und nicht zuletzt soll sich die Bevölkerung auch “emotional” hinter “ihrer” Verfassung versammeln können. Die Verfassung ist damit im Idealfall gleichsam eine rechtliche und gesellschaftliche Grundlage bzw. Klammer.
Vieles ist den “Vätern und Müttern” des bundesdeutschen Grundgesetzes gelungen, aber sowohl in punkto Beständigkeit als auch Wandlungsfähigkeit und gesellschaftlicher Klammer hat das Grundgesetz nach Einschätzung von Prof. Ulrich Fastenrath, der die Forschungsstelle Völkerrechts- und Staatstheorie an der TU Dresden leitet, einige Schwächen.
„In seinen 75 Jahren ist das Grundgesetz bereits 67 Mal geändert worden. Das ist außergewöhnlich viel. Die mehr als dreimal so alte amerikanische Verfassung wurde lediglich 18 Mal ergänzt“, vergleicht Prof. Fastenrath. „Ein Grund dürfte in der mitunter sehr hohen Präzision einzelner Regelungen des Grundgesetzes liegen und dem Hang, bei Änderungen sehr ins Detail zu gehen. Das hat historische Gründe, hängt aber auch damit zusammen, dass die politischen Akteure die Grenze ihrer Zugeständnisse oder das im Gegenzug dafür Erlangte im Wortlaut genau wiederfinden wollen. In der Praxis bewähren sich solche Detailregelungen aber nicht immer.“
Doch nicht nur die Politik nimmt dem Grundgesetz die Beweglichkeit. Auch das Bundesverfassungsgericht sorgte im Laufe seiner Rechtsprechung zunehmend für eine Versteinerung der verfassungsrechtlichen Begriffe, sagt Fastenrath. „So richtig es ist, dass Recht Konstanz braucht und deshalb bei der Auslegung von Rechtssätzen gerichtliche Entscheidungen zu berücksichtigen sind, so droht doch eine Verkrustung, weil sich das deutsche Recht in besonderer Weise als wissenschaftliches Recht versteht.“ Das Bundesverfassungsgericht entscheide nicht einfach den vorgelegten Einzelfall, sondern bette die Entscheidung in einen größeren Begründungszusammenhang ein, der Rechtsbegriffe schärft und frühere Begründungsableitungen immer wieder erneut abruft. „Das nimmt der Verfassungsauslegung und -anwendung die Flexibilität und führt dazu, dass das Grundgesetz nur noch von rechtskundigen Personen einigermaßen zutreffend verstanden werden kann.“
Dies hat direkte Konsequenzen auf die emotionale Bindungswirkung des Grundgesetzes. „Der Bevölkerung fehlt damit die Grundlage für einen Verfassungspatriotismus, wie es Dolf Sternberger genannt hat. Es bleibt nur der Rückzug auf universelle (und somit für Deutschland nicht spezifische) Werte wie Freiheit und Diskriminierungsverbot als Fundament der Gesellschaft bzw. den Grundkonsens aller Demokraten“, kritisiert Fastenrath.
Zum 75. Jubiläum wünscht sich der Staatsrechtler, dass wir dem politischen Prozess mehr vertrauen (können) und nicht alles rechtlich regeln wollen, weder in der Verfassung noch in Gesetzen. Ein freiheitlicher Staat und eine freie Gesellschaft brauchen Freiräume, um verantwortungsbewusst den mit der Zeit wechselnden Anforderungen und Lebenseinstellungen gerecht werden zu können.
Prof. Ulrich Fastenrath war von 1993 bis 2014 Inhaber der Professur für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der Technischen Universität Dresden und leitet seither die Forschungsstelle für Völkerrechts- und Staatstheorie. In diesen Bereichen liegen auch seine Forschungsschwerpunkte, die er interdisziplinär unter Einbeziehung von Linguistik, Philosophie und Politikwissenschaft betreibt. Er ist weiterhin in der Lehre am Zentrum für Internationale Studien tätig. https://tu-dresden.de/gsw/phil/irget/jfoeffl3
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Prof. Ulrich Fastenrath
Professur für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der TU Dresden
E-Mail: Ulrich.Fastenrath@tu-dresden.de