Mythen der Vergangenheit im Dienste der Gegenwart – Vom Wiederaufleben nationaler Ursprungskonzepte
Die Jahrestagung des Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) widmet sich am 3. und 4. Juni in Leipzig mythischen Vorstellungen von nationalen Ursprüngen und ihrem aktuellen Wiederaufleben in Mittel-, Ost- und Südosteuropa.
Herkunftserzählungen stiften Identität, konstruieren Nationen und legitimieren bestehende oder angestrebte Machtverhältnisse. Die Jahrestagung nimmt die Instrumentalisierung solcher Mythen in den Blick und analysiert sie aus historischer wie gegenwartsbezogener Sicht. Sie nutzt dazu das breite Spektrum der am GWZO vertretenen wissenschaftlichen Disziplinen – von der Geschichte und Archäologie über die Kunst- und Architekturgeschichte bis hin zur Ethnologie und Literaturwissenschaft.
Wie entsteht eine Nation? Seit dem 19. Jahrhundert sind die Prozesse der Nationenbildung eng mit Vorstellungen über scheinbar einzigartige, tief verwurzelte und historisch stabile Ethnien verbunden. Dies trifft besonders auf Mittel-, Ost- und Südosteuropa zu, eine Region, die eine vielschichtige Geschichte nationaler und territorialer Umwälzungen erlebt hat. Herkunftsnarrative wurden in der Sprach- und Geschichtswissenschaft oder der Archäologie entworfen und gelegentlich durch Erkenntnisse aus der Anthropologie oder sogar der Rassenbiologie ergänzt. In einigen Fällen waren es auch Amateurhistoriker*innen und Mitglieder von Diaspora-Gruppen, die Abstammungsgeschichten entwickelten, die zuerst als unwissenschaftlich abgelehnt wurden, später jedoch Eingang in die offizielle nationale Geschichtsschreibung fanden, um aktuellen geschichtspolitischen Interessen gerecht zu werden. Die Ursprünge nationaler Identität wurden ebenso in der Tradition des Brauchtums, der Folklore und speziell in Sagen, Legenden und Märchen erforscht. Die diversen Narrative hatten und haben einen beträchtlichen Einfluss auf nahezu alle kulturellen Bereiche von der Kunst über die Architektur bis zur Musik. Sie wurden nicht zuletzt häufig zur Rechtfertigung politischer Ansprüche genutzt, insbesondere territorialer Natur, etwa gegenüber Nachbarstaaten.
In einigen Teilen des heutigen Mittel-, Ost- und Südosteuropa haben nationale Herkunftsnarrative zwischenzeitlich eine neue politische Bedeutung erlangt. Beispiele hierfür sind die neo-turanistische Umdeutung der frühen ungarischen Geschichte im Kontext einer nach Osten aus-gerichteten Wirtschafts- und Bündnispolitik oder der Streit zwischen Mazedonien, Bulgarien und Griechenland über die Herkunft der modernen mazedonischen Nation. Nicht zuletzt dienen auch die Auseinandersetzungen um die nationale Zugehörigkeit der Krim und die Verwendung russischer Geschichtsbilder zur Legitimation des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine.
In der Rhetorik, die diesen Krieg begleitet, kommt auch der Verbindung von „Sprache“ und „Nation“ eine besondere Rolle zu – dazu spricht Sprachwissenschaftlerin Prof. Dr. Monika Wingender (Justus-Liebig-Universität Gießen) im Rahmen der Jahrestagung am 3. Juni ab 19 Uhr in ihrem öffentlichen Abendvortrag „Sprache und Nation in Russlands Krieg gegen die Ukraine – Narrative, Mythen, Propaganda“. Nationale Ursprungserzählungen Russlands und der Ukraine unterscheiden sich deutlich in Bezug auf die Kyiver Rus sowie auf die Entwicklung der drei ostslawischen Sprachen Russisch, Ukrainisch und Belarussisch. Russland stützt seine aktuelle Propaganda vor allem auf die Sprach- und Kulturideologie der „Russischen Welt“, die zunehmend zu einem geopolitischen Konzept Russlands wurde. Die Ukraine wehrt sich gegen das sowjetische Erbe in ihrer Sprachsituation, das weit verbreitete Russisch, und die Russkij-Mir-Ideologie mit Dekommunisierungs- und Sprachgesetzen. Seit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine verändert sich die Sprachsituation in der Ukraine sehr stark. Ukrainisch ist zur Sprache des Widerstands geworden, Russisch dagegen zur Sprache des Feindes. Linguistic Landscaping – die Repräsentanz der Sprachen im öffentlichen Raum – verschafft dem Ukrainischen im Krieg zusätzliche Präsenz.
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Myths of the Past in Service of the Present. Resurgent Conceptions of National Origins in Central, Eastern and Southeastern Europe
Jahrestagung des Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO)
3. - 4. Juni 2024
Präsenz/online
GWZO, Specks Hof (Eingang A), 4.Etage, Reichsstraße 4–6, 04109 Leipzig
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Das Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) erforscht historische und kulturelle Prozesse in der Region zwischen Ostsee, Schwarzem Meer und Adria. Grundlegend für das GWZO sind der breite zeitliche Rahmen seiner epochenübergreifenden Forschungen, der am Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalter ansetzt und bis in die Gegenwart reicht, sowie die ausgeprägte Interdisziplinarität. In der Grundlagenforschung des GWZO werden Methoden und Konzepte aus den Disziplinen und Fächern der Archäologie, Mediävistik, Literaturwissenschaft, der Osteuropastudien, der Geschichtswissenschaft, der Kunstgeschichte und Architekturgeschichte als auch der interdisziplinären Kulturwissenschaften miteinander verknüpft. Es kommen zudem naturwissenschaftliche Ansätze zum Tragen. Sein konstant breites Fächerspektrum bildet ein Alleinstellungsmerkmal des GWZO, nicht nur im Hinblick auf Deutschland, sondern auch im weltweiten internationalen Vergleich. Es trägt universitäts-komplementär damit zu einem elaborierten Verständnis der historischen und heutigen Entwicklungen in den Staaten, Gesellschaften und Kulturen des östlichen Europas bei. Das Institut ist eng mit der Universität Leipzig verbunden. Es gibt gemeinsame Berufungen und eine enge Zusammenarbeit in Forschung, Lehre und Karriereausbildung. Vielfältige Kooperationsbeziehungen bestehen ebenfalls mit zahlreichen wissenschaftlichen Einrichtungen im östlichen Europa. | www.leibniz-gwzo.de
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Prof. Dr. Arnold Bartetzky
arnold.bartetzky@leibniz-gwzo.de
Dr. des. Karin Reichenbach
karin.reichenbach@leibniz-gwzo.de
PD Dr. Adamantios Th. Skordos
adamantios.skordos@leibniz-gwzo.de
Weitere Informationen:
https://kurzlinks.de/rbjc