HoF-Publikation: „Soziale Integration und nationale Identität“ – eine kommentierte Antrittsvorlesung, 30 Jahre später
Reinhard Kreckel, 2001 bis 2010 HoF-Direktor, hat sich seine zeitdiagnostische Antrittsvorlesung in Halle von 1993 vorgenommen, um ihre Aussagen drei Jahrzehnte später auf Geltung, Revisions- oder Ergänzungsbedürftigkeit hin zu prüfen. Neben zutreffenden Prognosen identifiziert er seinerzeit nicht erwartete Entwicklungen, etwa den öffentlichen Druck zur „political correctness“, der auch die Sozialwissenschaften erreicht hat.
Im April 1993 hielt Reinhard Kreckel seine Antrittsvorlesung an der Universität in Halle. Nachdem er zuvor an den Universitäten Aberdeen und Erlangen-Nürnberg gelehrt hatte, war er zum Gründungsprofessor an das hallesche Institut für Soziologie berufen worden. Als dessen Direktor sollte er dann mehrfach amtieren, ließ sich von 1994 bis 2000 als Prorektor und Rektor der Universität in die Pflicht nehmen und war ein Jahrzehnt Direktor des Instituts für Hochschulforschung (HoF).
Das Thema seiner Antrittsvorlesung, in der Anfangszeit der deutsch-deutschen Vereinigung, war „Soziale Integration und nationale Identität“. Schon damals hatte Kreckel eine innerdeutsche Ost-West-Spaltung und eine zunehmende Fremdenfeindlichkeit in ganz Deutschland erwartet. Diese Vorlesung hat er nun einer Relektüre unterzogen. Mit der Erfahrung von drei Jahrzehnten schien es ein guter Zeitpunkt, die damaligen Thesen zu überprüfen: Was gilt heute noch, und was ist revisions- oder ergänzungsbedürftig geworden?
Neben den beiden erwarteten Entwicklungen gebe es unerwartete neue. Darunter beunruhigt ihn insbesondere der zunehmende öffentliche Druck zur „political correctness“. Er wirke sich nicht nur in den traditionellen und den neuen Medien aus. Er werde auch zu einem Problem für die akademische Freiheit, das bis in die Sozialwissenschaften und die Hochschulforschung hineinreiche.
Gleichzeitig beobachtet Kreckel eine neue Aggressivität in der innerdeutschen Ost-West-Auseinandersetzung, die eher aufhetzt als aufklärt. Parallel verlagere sich die in ganz Deutschland beobachtbare Fremdenfeindlichkeit zunehmend an die europäischen Außengrenzen, wo eine „Festung Europa“ entstanden sei. Für ein längst multi-ethnisch gewordenes Einwanderungsland wie Deutschland, das auf den weiteren Zuzug von Arbeitskräften angewiesen sei und im Hochschulbereich auf Internationalisierung setze, sei das eine widersprüchliche Haltung.
Die allenthalben beobachtbare öffentliche Gereiztheit und Aggressivität gebe aber nicht nur Anlass zur Sorge, sondern sei auch die Konsequenz von gelungener Integration vormals ausgegrenzter Minderheiten. So habe sich in den vergangenen drei Jahrzehnten die Zahl der Studierenden in ganz Deutschland mehr als verdoppelt. In Anlehnung an den Dortmunder Soziologen Aladin El-Mafaalani hebt Kreckel hervor, dass in diesem Zeitraum nicht nur die „Ossis“, sondern auch Frauen, Migranten, Anders-Farbige, Anders-Gläubige, sog. sexuelle Minderheiten, Arme und Behinderte sehr viel mehr verbriefte Rechte und Ressourcen hinzugewonnen haben, sodass sie heute ihre Ansprüche offensiv vertreten können, leider auch immer aggressiver.
Angesichts der heutigen internationalen Turbulenzen schließt er mit dem verhalten optimistischen Monitum, dass man in Deutschland lernen müsse, „nach Außen etwas bescheidener aufzutreten und im Inneren die eigene Demokratie als eine zeitgemäße Streitkultur neu zu erfinden, die mehr ist, als nur eine wilde Keilerei von Selbstdarstellern mit Partikularinteressen. Man sollte sich beherzt dafür einsetzen, dass das auch gelingt.“
Originalpublikation:
Reinhard Kreckel: Soziale Integration und nationale Identität. Eine Wiederbegegnung nach drei Jahrzehnten (HoF-Arbeitsbericht 125), Institut für Hochschulforschung (HoF) an der Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg 2024, 42 S.
URL: https://www.hof.uni-halle.de/web/dateien/pdf/ab_125_WEB.pdf