Wie der Tourismus in Deutschland entstanden ist
Interview mit Dr. Mathias Häußler vom Institut für Geschichte der Universität Regensburg, Stipendiat der Daimler und Benz Stiftung
Die Vergnügungsreise war eine neue Idee, die Ende des 19. Jahrhunderts aufkam. Gewaltige Umwälzungen, die die Moderne mit sich brachte, machten den Tourismus, wie wir ihn heute kennen, erst möglich. Im Deutschen Kaiserreich, das im Jahr 1871 gegründet wurde, entstanden in Stadt und Land frühe touristische Zentren. „Tourismus und Nation im Kaiserreich“ lautet das Forschungsgebiet des Historikers Dr. Mathias Häußler vom Institut für Geschichte der Universität Regensburg. Sein Projekt wird im Rahmen des Stipendienprogramms für Postdoktoranden und Juniorprofessoren der Daimler und Benz Stiftung über zwei Jahre mit einer Summe von 40.000 Euro gefördert.
Stiftung: Herr Dr. Häußler, gab es tatsächlich keine Reisen vor dem 19. Jahrhundert?
Häußler: Natürlich haben sich die Menschen schon immer auf unserer Erde bewegt, etwa wenn sie Arbeit suchten, Hungersnöte litten oder auf der Flucht waren. Es gab auch bereits vor dem 19. Jahrhundert gewisse „vortouristische“ Praktiken, wie die großen Weltreisen der Entdecker, religiöse Pilgerreisen oder auch die bekannte „Grand Tour“ junger Adeliger. Aber das Reisen zum rein persönlichen Vergnügen – quasi als Selbstzweck – einer größeren Masse an Menschen, das war tatsächlich ein neues Phänomen des 19. Jahrhunderts.
Stiftung: Ist die Erfindung der Vergnügungsreise ein ähnliches Novum wie die Erfindung des Spaziergangs? Vor dem 18. Jahrhundert gab es in Westeuropa den Spaziergang als Freizeitbeschäftigung noch nicht, auf die Idee kamen ja erst die Romantiker.
Häußler: Ja, das kann man ähnlich einordnen. In der Tat liegt ja dem Wort „Tourist“ das französische Wort „tour“ zugrunde, das ursprünglich für „Rundgang“ oder „Spaziergang“ stand. Auch dem Tourismus des 19. Jahrhunderts lag anfangs ein neuer, romantischer Blick auf die Natur zugrunde – Flüsse, Meere und Gebirge stellten nun keine Bedrohungen mehr dar, sondern weckten Sehnsüchte. Man sah in der Natur etwas Ursprüngliches und Wahrhaftiges, ein Gegenstück zum modernen Leben. Dank neuer technischer Möglichkeiten ließ sich diese Natur beherrschbar machen und nahezu mühelos bereisen. Man konnte sie infrastrukturell erschließen und somit als Tourist im buchstäblichen Sinne „erfahren“.
Stiftung: Wie kam es damals zur Idee des privaten Reisens?
Häußler: Der Tourismus ist letztendlich ein Produkt der Umwälzungen der Moderne. Die Entstehung der Eisenbahn, die stetige Erweiterung des Schienennetzes und die Dampfschifffahrt schufen neue Möglichkeiten; Reisezeiten schrumpften dramatisch. Im Gegensatz zur Fahrt mit der Kutsche nur wenige Jahrzehnte zuvor konnte man plötzlich bequem, schnell und sicher reisen.
Stiftung: Wer konnte sich das touristische Reisen überhaupt leisten?
Häußler: Zu Beginn waren das vor allem die Aristokratie und das Großbürgertum. Im Laufe des 19. Jahrhunderts kamen dann das Groß-, Mittel- und teilweise auch das Kleinbürgertum dazu. Doch es blieb bis weit in das 20. Jahrhundert hinein ein bürgerliches Phänomen, denn für die Arbeiterklasse waren Reisen schlichtweg nicht finanzierbar; außerdem gab es im 19. Jahrhundert meist auch keinen Urlaub.
Stiftung: Wohin reisten die Menschen damals und woher wussten sie über mögliche Reiseziele Bescheid?
Häußler: Genau wie heute war der moderne Tourismus schon im 19. Jahrhundert ein mediales Phänomen. Durch Reiseführer, Illustrierte oder Postkarten wurden Bilder, Erwartungen und Sehnsüchte erweckt – und somit erst der Wunsch, bestimmte Orte oder Ziele überhaupt bereisen zu wollen. Das Paradebeispiel hierfür ist der berühmte und zu dieser Zeit erfundene Baedeker-Reiseführer, der mit dem Verteilen von „Sternen“ auch gewisse touristische Hierarchien erschuf. Er bestimmte, was im wörtlichen Sinne als sehenswert galt. Und da gab es ein breites Spektrum: Neben dem Großstadttourismus in Berlin, Dresden oder Köln standen auch klassische – oftmals national aufgeladene – Landschaftsziele wie der Rhein oder der Harz hoch im Kurs. Dazu kamen große Kurstädte wie Wiesbaden oder Baden-Baden, eine Vielzahl von Seebädern an Nord- und Ostsee und natürlich zahllose sogenannte „Sommerfrischen“ auf dem Land. Auch der Wintersport-Tourismus erlebte gegen Ende des 19. Jahrhunderts einen regelrechten Boom.
Stiftung: War Reisen denn auch ein politisches Thema?
Häußler: Letztendlich ging und geht es beim Tourismus stets um Konsum – und Konsum ist immer auch politisch. Gerade für das Bürgertum des 19. Jahrhunderts diente der Tourismus daher stets auch der sozialen Verortung. Welche Hotels buchte man, welche Restaurants und Sehenswürdigkeiten besuchte man? Es ging dabei auch um Status und Prestige. Der Tourismus war eine bürgerliche Praxis, um sich der eigenen gesellschaftlichen Position zu vergewissern. Freilich galt das im Umkehrschluss auch für die Reiseziele selbst, sie sahen sich als Teil eines allumgreifenden Wettbewerbs der Moderne um 1900.
Stiftung: Was muss man sich darunter vorstellen?
Häußler: Die großen europäischen Staaten befanden sich damals in einem permanenten Wettbewerb miteinander: Großmächte wie die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich sahen sich als Konkurrenten um politische Macht und wirtschaftliche Stärke, aber auch um Status und Prestige. Paradebeispielspiel hierfür sind die Weltausstellungen jener Zeit, in welchen die Staaten ihre technischen und kulturellen Errungenschaften öffentlichkeitswirksam inszenierten. Aber auch der Tourismus spielte eine wichtige Rolle: Welche Länder galten als touristisch attraktiv, wohin reisten die Leute besonders gern? Das Deutsche Kaiserreich wollte hierbei eine bedeutsame Rolle spielen.
Stiftung: Wurde der Tourismus denn von staatlicher Seite gefördert?
Häußler: In Nachbarstaaten wie Österreich, Frankreich oder der Schweiz schon; im Kaiserreich hingegen höchstens von einzelnen Bundesstaaten wie Bayern oder den föderal organisierten Eisenbahngesellschaften. Für die Tourismusförderung waren eher private Akteure entscheidend: frühe Profiteure wie Hoteliers oder Gastronomen, die sich meist zivilgesellschaftlich auf lokaler Ebene in sogenannten „Verkehrsvereinen“ oder „Vereinen zur Hebung des Fremdenverkehrs“ zusammenschlossen. Fast 300 gab es hiervon im Kaiserreich. Hinzu kamen dann Zusammenschlüsse auf Landesebene, etwa in Sachsen oder Bayern. Im Jahr 1902 wurde schließlich der „Bund Deutscher Verkehrsvereine“ als nationaler Dachverband gegründet, der schnell zum entscheidenden Akteur der Tourismusförderung im Kaiserreich wurde.
Stiftung: Zu Ihrem Forschungsgebiet gehört auch der Nationalismus. Welche Zusammenhänge gibt es da?
Häußler: Mich interessiert vor allem, wie Ideen von nationaler Identität im alltäglichen Leben konstruiert und verhandelt wurden. Wir wissen in der Geschichtswissenschaft relativ viel über Nationsideen, die „von oben“ entwickelt wurden, aber relativ wenig darüber, wie das ganze „von unten“ aussah. Der Tourismus bietet in diesem Zusammenhang einen spannenden Zugang, weil ihm eben gerade im Kaiserreich eine zivilgesellschaftliche Dynamik innewohnte. Wie versuchten Mitglieder in Verkehrsvereinen, sich selbst und ihre Orte touristisch zu verkaufen? Womit wollte man auswärtige Gäste von sich überzeugen? Worauf war man stolz, was fand man besonders schön? Und welche Selbstverständnisse lagen diesen Bildern letztendlich zugrunde? In der touristischen Werbung zeigt sich ja nicht, wie die Menschen an einem Ort tatsächlich sind, sondern wie sie gesehen werden wollen...
Stiftung: Erreichte man denn übereinstimmende Vorstellungen von nationaler Identität?
Häußler: Nicht wirklich, zumindest was die Idee der Nation als Ganzes betrifft. Wir wissen ja bereits aus schulischen oder militärischen Bereichen von den Schwierigkeiten, im Kaiserreich eine gesamtdeutsche Identität zu konstruieren. Das 1871 gegründete Deutschland war ja ein relativ beliebiges und zufällig zusammengewürfeltes Konstrukt – Preußen war dominant, Österreich war nicht dabei. Man konnte sich nicht einmal auf eine gemeinsame Nationalhymne einigen! Dementsprechend spiegelte sich auch im Tourismus eine weiterhin starke Bedeutung föderaler und regionaler Identitäten wider.
Stiftung: Ist dieser Prozess vergleichbar mit der heutigen Schwierigkeit, eine europäische Identität zu entwickeln?
Häußler: In gewisser Weise schon, auch die Lösung war dann ja ähnlich: In der touristischen Werbung des Kaiserreichs findet sich beispielsweise immer wieder das Bild vom Deutschland der vielen Heimaten: ein Deutschland, das eben kein zentralistischer Staat ist, sondern ganz viele verschiedene Regionen mit unterschiedlichen lokalen Identitäten einschließt.
Stiftung: Was bedeutet Ihre Forschung für die Gegenwart?
Häußler: Mein Projekt beleuchtet die historischen Ursprünge eines gesellschaftlich zentralen Phänomens. Der Tourismus ist heute einer der größten Wirtschaftszweige der Welt, an dem nicht nur enorme Industrien hängen, sondern teilweise das Wohl und Wehe ganzer Staaten. Die grundsätzlichen Prozesse und Dynamiken des Tourismus um 1900 sind auch im heutigen Tourismus aktuell. Gleichwohl hat sich der Tourismus seit dem 19. Jahrhundert geografisch und sozial immer weiter ausgeweitet – vom Großbürgertum zur Arbeiterschaft, von der Eisenbahnreise zur Flugreise und jetzt sogar bis hin zum Weltraumtourismus. In dieser scheinbar banalen und alltäglichen Freizeitbeschäftigung des Reisens stecken größere Fragen, etwa von Hierarchien, Ausbeutung und Abhängigkeiten.
Stiftung: Sie sprechen damit die Schattenseiten des Tourismus an.
Häußler: Ja, und auch die gab es schon um 1900. Bereits im Kaiserreich funktionierten touristische Ziele oftmals nur aufgrund von prekär beschäftigten und gering entlohnten Dienstleistern wie Laufburschen und Zimmermädchen. Im Kaiserreich finden wir schon Diskussionen über die ökologischen Kosten des Tourismus oder auch über „Overtourism“, wenn beispielsweise kleinere Sommerfrischen von Horden Großstädter überschwemmt wurden. Außerdem finden wir schon im Tourismus des Kaiserreichs soziale Ausgrenzung und Rassismus. Besonders drastisch zeigt sich das im sogenannten „Bäder-Antisemitismus“ in den Seebädern der Nord- und Ostsee, wo sich einzelne Bäder als „judenfrei“ bewarben.
Stiftung: Welche Quellen nutzen Sie für Ihre wissenschaftliche Arbeit und was bedeutet das Stipendium der Stiftung für Sie?
Häußler: Am wichtigsten für mein Projekt sind die Überlieferungen der vielen föderalen und lokalen Verkehrsvereine, die in unzähligen Landes- und Stadtarchiven liegen. So habe ich den Großteil der Fördermittel aus dem Stipendium der Daimler und Benz Stiftung dafür verwendet, in gewisser Weise selbst Tourist zu sein und von Stadtarchiv zu Stadtarchiv zu pilgern. Von Bautzen bis Baden-Baden, von Würzburg bis Worms – insgesamt waren es über 60 Archive!
Stipendienprogramm für Postdoktoranden und Juniorprofessoren
Die Daimler und Benz Stiftung vergibt jedes Jahr zwölf Stipendien an ausgewählte Postdoktoranden mit Leitungsfunktion und Juniorprofessoren. Ziel ist, die Autonomie und Kreativität der nächsten Wissenschaftlergeneration zu stärken und den engagierten Forschern den Berufsweg während der produktiven Phase nach ihrer Promotion zu ebnen. Die Fördersumme in Höhe von 40.000 Euro pro Stipendium steht für die Dauer von zwei Jahren bereit und kann zur Finanzierung wissenschaftlicher Hilfskräfte, technischer Ausrüstung, Forschungsreisen oder zur Teilnahme an Tagungen frei und flexibel verwendet werden. Durch regelmäßige Treffen der jungen Wissenschaftler dieses stetig wachsenden Stipendiatennetzwerks fördert die Daimler und Benz Stiftung zugleich den interdisziplinären Gedankenaustausch.
Daimler und Benz Stiftung
Die Daimler und Benz Stiftung fördert Wissenschaft und Forschung. Dazu richtet sie innovative und interdisziplinäre Forschungsformate ein. Ein besonderes Augenmerk legt die Stiftung durch ein Stipendienprogramm für Postdoktoranden sowie die Vergabe des Bertha-Benz-Preises auf die Förderung junger Wissenschaftler. Mehrere Vortragsreihen sollen die öffentliche Sichtbarkeit von Wissenschaft stärken und deren Bedeutung für unsere Gesellschaft betonen.
*Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung weiblicher und männlicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten für Personen aller Geschlechter. Wir möchten die in den Texten der Stiftung verwendete Form als geschlechtsneutral und wertfrei verstanden wissen.
Weitere Informationen:
https://www.daimler-benz-stiftung.de/cms/de/foerdern/stipendienprogramm/stipendiaten/stipendiaten-2022.html