Fußball-Europameisterschaft: Diversität im Team als Erfolgsfaktor
Wer wird Fußball-Europameister 2024? Christian Geyer ist externer Doktorand an der FernUniversität in Hagen. Am Lehrstuhl für Unternehmensrechnung und Controlling von Prof. Dr. Jörn Littkemann forscht er zum Erfolgsfaktor Kaderzusammenstellung bei Fußball-Weltmeisterschaften. Die Ergebnisse lassen sich auf die Heim-Europameisterschaft übertragen, die bis zum 14. Juli in Deutschland stattfindet. Vier Fragen rund um die Favoriten, die Diversität im deutschen Nationalteam und die Chancen unserer Elf.
FernUniversität: Herr Geyer, sind Sie schon in EM-Stimmung und haben Sie aus wissenschaftlicher Sicht die Favoriten für den EM-Titel im Blick?
Geyer: Ja, tendenziell schon. Es gibt eine Reihe von Prognosemethoden, um den Gewinner bei Fußballgroßereignissen vorherzusagen. Diese beruhen oft auf der Marktwertmethode: Das Team, das laut der Marktwerte am teuersten ist, wird vermutlich auch am erfolgreichsten sein. „Geld schießt Tore“ ist im Fußball eine Phrase, die es gut trifft. In diesem Jahr liegen England und Frankreich vorne. Mithilfe dieser Methode den Meister bei Kontinentalturnieren vorherzusagen, hat in den vergangenen Jahren gut geklappt. Damit lag man relativ häufig richtig beim Bestimmen des Gewinners. Wer aber auch auf die Halbfinalisten schaut, die ebenfalls aufgrund der Prognosemethode hätten bestimmt werden können, lag oft daneben. Dann waren zum Beispiel Teams wie Marokko bei der letzten Weltmeisterschaft 2022 dabei, denen man das aufgrund der Kaderstärke und Marktwerte nicht zugetraut hätte. Als Forscher setze ich an diesem Punkt mit weiteren Variablen an, die erklären, warum auch kleinere Teams bei Fußballgroßereignissen weiterkommen.
FernUniversität: Ein wichtiger Erfolgsfaktor ist in Ihren Publikationen die Diversität im Team. Was hat es damit auf sich?
Geyer: Wir betrachten bei der Zusammenstellung des Kaders die Diversität hinsichtlich der Rolle der Spieler. Wieviel Erfahrung bringen sie mit? Sind sie schon länger Nationalspieler? Das ist gerade bei dieser Europameisterschaft ein interessanter Punkt, da auch Nationaltrainer Julian Nagelsmann vorab mit dem deutschen Team Gespräche geführt und klare Rollen mitgeteilt hat.
Wir hatten in Deutschland im erfolgreichen WM-Jahr 2014 ein wenig diverses Team. Insbesondere auch in Schlüsselpositionen gab es extrem viele Spieler, die eigentlich mit einem ähnlichen Erfahrungsschatz ausgestattet waren. Für viele war es die letzte oder vorletzte Chance, den WM-Titel zu holen. Diesmal versucht der Nationaltrainer eine andere Herangehensweise und hat Spieler aus vielen Vereinen rekrutiert. Wir haben nicht mehr die beiden großen Blöcke von Bayern München und Borussia Dortmund. Viele Nationalspieler vom VfB Stuttgart und Bayer 04 Leverkusen sind neu dabei. Das ist interessant, weil sie eine Saison mit ihren Vereinen gespielt haben, die man ihnen im Vorfeld so nicht zugetraut hätte. Es sind Spieler, die auf einer Euphoriewelle schwimmen und das hoffentlich mit in die Nationalmannschaft übertragen. Die Mischung ist grundsätzlich etwas bunter und heterogener als in den Vorjahren. Man hat deutlich weniger erfahrene und überspielte Spieler im Kader, sondern auch junge, hungrige Profis. Das kann tendenziell schon erfolgsversprechender sein, auch wenn die deutsche Mannschaft im Vergleich zu den favorisiertenTeams in der Spitze vielleicht qualitativ unterlegen erscheint.
FernUniversität: Welche weiteren Erfolgsfaktoren berücksichtigen Sie?
Geyer: Der Trainer und die Eingespieltheit der Mannschaft sind weitere Erfolgsfaktoren. Hier stehen uns über Portale wie transfermarkt.de viele Daten zur Verfügung, die getrackt werden. Wieviel Gesamterfahrung bringt der Nationaltrainer mit? Welche bisherigen Erfolge kann er vorweisen? Wie viele Spieler wurden in der Qualifikation eingesetzt? Ein eingespieltes Team ist erfolgsversprechender als eine bunt zusammengewürfelte Mannschaft, die sich von Spieltag zu Spieltag neu erfinden muss. 2018 und 2022 sind bei den Weltmeisterschaften in den Qualifikationsphasen mehr als 40 Spieler eingesetzt worden, darunter kann die Eingespieltheit eines Teams natürlich leiden.
FernUniversität: Wie lautet Ihr Tipp für die Europameisterschaft als Wissenschaftler und Fußballfan? Wie schneidet die deutsche Nationalmannschaft ab?
Geyer: Das ist spannend und schwierig zu trennen. Bei einer Heim-Europameisterschaft kommt hier eine emotionale Komponente dazu. Allein aufgrund der Forschungsergebnisse zu tippen, das klappt meist nicht – die persönliche Erwartung an das deutsche Team und das Mitfiebern als Fan spielen da schon eine gewichtige Rolle. Ich würde mir wünschen, dass das deutsche Team relativ weit kommt. Wenn wir einen guten Start erwischen, traue ich unserer Elf durchaus das Halbfinale zu. Spätestens dann wird meiner Meinung nach die Tagesform entscheidend sein. Auch die Stimmung im Land kann dazu beitragen das Team zu beflügeln, um dann vom „ganz großen Wurf“ mit dem Gewinn des Titels zu träumen. Aufgrund von Zufall und Glück sowie aufgrund des Spielmodus ist bei einer Europameisterschaft in engen Spielen ohnehin alles drin.
Zur Person
Christian Geyer arbeitet als Senior Consultant im Bereich Financial Advisory bei der Unternehmensberatung und Wirtschafsprüfungsgesellschaft Deloitte in Frankfurt am Main. Als externer Doktorand promoviert er an der FernUni mit dem Arbeitstitel „Erfolgsfaktor Kaderzusammenstellung“. Dafür analysiert er die Kader der Top-Ten-Nationen der ewigen WM-Tabelle seit der Fußball-Weltmeisterschaft 1966. Bis 2023 war Geyer wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für BWL, insbes. Unternehmensrechnung und Controlling von Prof. Dr. Jörn Littkemann und hat zu verschiedenen Themen des Sportmanagements geforscht.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Christian Geyer
https://www.fernuni-hagen.de/controlling/team/christian.geyer.shtml
christian.geyer@fernuni-hagen.de