Die allgemeine Relativität der Privatsphäre
Er fordert nicht weniger als einen „Paradigmenwechsel in der Datenschutzforschung“. Tawfiq Alashoor, Professor an der IESE Business School, plädiert für eine Allgemeine Relativitätstheorie des Datenschutzes. „Wir müssen personenbezogene Daten durch die Linse der `Kontextzeit` neu betrachten“, so Alashoor.
„Ich mache vielleicht heute Dinge von mir öffentlich, die mich gut dastehen lassen – die mir aber in einigen Jahre unangenehm sind, weil sich die gesellschaftliche Sicht darauf verändert hat“. Die Betrachtung der Kontextzeit analog zur Raumzeit in der Physik ebne den Weg für eine „neue wirtschaftliche Weltordnung, in der persönliche Daten als eine digitale Währung im Mittelpunkt stehen“ zeigt sich IESE-Professor Alashoor überzeugt.
Einstein definierte unser Verständnis der Schwerkraft mit der Allgemeinen Relativitätstheorie neu, indem er sie als eine Krümmung der Raumzeit und nicht als eine einfache Kraft darstellte. Während zum Beispiel die Geolokalisierung in der digitalen Welt unseren Standort bestimme, „ist es der Kontext, der unsere Lebenserfahrungen am stärksten prägt“. Diese allgemeine Relativität der Privatsphäre, so Tawfiq Alashoor, zeige, dass Bedeutung und Wert personenbezogener Daten durch die Kontextzeit bestimmt werden. Tawfiq Alashoor, der auch am Campus München der IESE Business School lehrt, blickt auf zwei Jahrzehnte theoretischer und empirischer Forschung auf dem Gebiet des Datenschutzes zurück. Alashoor ist IESE-Professor für Operations, Information and Technology.
„Die Kontextzeit prägt unsere digitale Identität. Diese Makroperspektive hilft uns, Bedrohungen der Cybersicherheit zu begegnen und ein grundlegendes Menschenrecht zu schützen: den Datenschutz“, so Alashoor. Paradox sei die Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach Datenschutz und dem tatsächlichen Online-Freigabeverhalten von Einzelpersonen. „Diese Divergenz entsteht in erster Linie durch das nuancierte Zusammenspiel von Kontext und Zeit“, meint Tawfiq Alashoor. „In der allgemeinen Relativitätstheorie sind Raum und Zeit untrennbar miteinander verwoben, in der Privatsphäre Kontext und Zeit“. Kommende Generationen könnten mit ihren umfangreichen digitalen Fußabdrücken durch ihre Online-Geschichte quasi in der Zeit zurückreisen. Künstliche Intelligenz könne zwar historische Daten mit einer noch nie dagewesenen Geschwindigkeit analysieren, aber nur sehr eingeschränkt den Kontext der Daten verstehen. „Die Vorhersagekraft und der Nutzen für den Menschen wird dadurch untergraben“, so der IESE-Professor.
„Der Datenschutz erfasst alle Lebensbereiche, er ist allgegenwärtig“. Über 160 Länder versuchen der Herausforderung mit allerlei Vorschriften zu begegnen. „Um die immer komplexere Datenwelt zu beherrschen, sollten wir Erkenntnisse aus einer Vielzahl von Fachgebieten einbeziehen, von den Informationssystemen über Verhaltensökonomie und Recht bis zu den Neurowissenschaften“, meint Alashoor. Sein Ziel sei „eine Theorie zu entwickeln, die die Datenschutzpraktiken von Einzelpersonen und Unternehmen verbessert“.
Den Verzerrungen der Algorithmen könne nur eine „tiefere, interdisziplinäre Erforschung der allgemeinen Relativität der Privatsphäre entgegenwirken“. Private Daten hätten einen bestimmten Wert zu einer bestimmten Zeit. Die Weitergabe persönlicher Daten hänge von den erwarteten Vorteilen und Kosten ab. Wird diese Entscheidung nicht sorgfältig getroffen, entstehen Nachteile, wie durch die Weitergabe eines Passworts an eine nicht vertrauenswürdige Partei. Übermäßige Vorsicht andererseits kann dazu führen, dass Gelegenheiten zur Zusammenarbeit verpasst werden. Das Datenschutzkalkül ist anfällig für Verzerrungen. „Nur, wenn wir die Rolle von Kontext und Zeit berücksichtigen, können wir richtige Entscheidung zum Schutz der Privatsphäre treffen“, ist Prof. Tawfiq Alashoor überzeugt.
Die allgemeine Relativität der Privatsphäre bestimme Wert und Bedeutung personenbezogener Daten durch den zeitlichen Kontext. „So wie sich Licht weder als Teilchen noch als Welle verhalte, bis es beobachtet wird, können auch nicht offengelegte Informationen unsere Wahrnehmung der Welt verändern“, erklärt der Professor der IESE Business School. „Das wahre Wesen und der Wert der Privatsphäre bleiben so lange unbestimmt, bis sie innerhalb der Grenzen der Kontextzeit neu konzeptualisiert werden“.
Tawfiq Alashoor (37) ist Professor für Operations, Information and Technology an der IESE Business School, die auch einen Campus München unterhält. Alashoor hält einen Bachelor of Science in Management Information Systems der King Fahd University of Petroleum and Minerals, einen Master in Information Systems der Pennsylvania State University und einen Ph.D. in Computer Information Systems der Georgia State University. Nach seiner Promotion absolvierte er ein Postdoc-Programm an der University of Notre Dame (USA). Seine Forschung konzentriert sich auf Datenschutz- und Cybersicherheit in KI-gestützten Technologien. Seine Forschungsergebnisse wurden in führenden Fachzeitschriften wie der Information Systems Research (ISR) und dem Journal of the Association for Information Systems (JAIS) sowie auf Konferenzen wie der International Conference on Information Systems (ICIS) und der Hawaii International Conference on System Sciences (HICSS) veröffentlicht. Er hat mehrere akademische Auszeichnungen erhalten und ist als Gutachter für mehrere FT 50-Wirtschafts- und Wissenschaftszeitschriften tätig. Bevor er zu IESE kam, unterrichtete Alashoor Cybersicherheit und andere managementbezogene Themen an hochrangigen Universitäten in Dänemark (Copenhagen Business School), Saudi-Arabien (King Fahd University of Petroleum and Minerals) und den Vereinigten Staaten (University of Notre Dame und Georgia State University). Er hat mehrere Auszeichnungen für hervorragende Lehrtätigkeit erhalten. Alashoor ist ein ehemaliger Profi-Handballer (Al-Taraj Club, Saudi-Arabien).
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Prof. Tawfiq Alashoor - Assistant Professor for Operations, Information and Technology IESE Business School