Verteilungsgerechtigkeit: Bedarf als Kriterium für gerechte Verteilung von Ressourcen
Bürgergeld, BAföG oder Leistungen für Zugewanderte: Sollten vorhandene Ressourcen an alle gleich oder nach Leistung verteilt werden? In Verteilungsfragen dominieren egalitäre oder leistungsbezogene Argumentationen. Ein besseres Kriterium sei jedoch der Bedarf, so eine interdisziplinäre Forschungsgruppe um die Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg (HSU/UniBw H). In einer Theorie bedarfsbasierter Gerechtigkeit fassen Prof. Dr. Stefan Traub (HSU/UniBw H) und Prof. Dr. Bernhard Kittel (Universität Wien) die Ergebnisse des Forschungsprojekts zusammen. Die neue Theorie wirft Fragen über unsere gesellschaftliche Solidarität auf.
Politische Slogans wie „Reichtum für alle“ oder „Arbeit muss sich wieder lohnen“ symbolisieren die gängigen Kriterien der Verteilungsfrage: Ressourcen sollen entweder an alle gleich oder aber nach Leistung verteilt werden. In westlichen Demokratien herrscht der Anspruch, eine gerechte Verteilung knapper Ressourcen auszuhandeln.
Gerecht sind die gängigen Verteilungskriterien jedoch nicht immer: Eine Gleichverteilung lässt beispielsFühweise individuelle Verdienst außer Acht; eine leistungsbezogene Verteilung schließt Menschen aus, die aus verschiedenen Gründen keinen Beitrag zum Gemeinwohl leisten können.
Gemeinsame Forschung für umfassende Perspektive auf Verteilungsgerechtigkeit
„Der Bedarf ist ein besseres Kriterium für die Verteilungsfrage“, erklärt Stefan Traub, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg.
„Es ist nicht per se ungerecht, viel oder mehr als andere zu haben. Ungerecht wird es erst, wenn andere in der Gesellschaft ihre Bedarfe nicht decken können“, so der Wirtschaftswissenschaftler.
Stefan Traub ist Sprecher der DFG-Forschungsgruppe „Bedarfsgerechtigkeit und Verteilungsprozeduren“. Diese hat sich über acht Jahre mit verschiedenen Aspekten einer gerechten Verteilung beschäftigt. Ihre Hypothesen um Bedarf als Verteilungskriterium haben die Forschenden empirisch getestet, vor allem durch Laborexperimente.
Diktatorspiele im Labor: Experimente zu Bedarf als Verteilungsprinzip
In Laborexperimenten testeten die Forschenden, ob Bedarf neben oder statt Gleichheit oder Leistung ein Prinzip für gerechte Verteilung ist. Die Experimente fokussierten dabei jeweils auf unterschiedliche Aspekte und Hypothesen.
In einem „Diktatorspiel“ konnten Teilnehmende zum Beispiel Gewinne aus ihrem Spiel an Bedürftige verteilen. Das Experiment zeigte: Kannten die „Diktatoren“ die Bedarfe, wurden diese bei der Verteilung berücksichtigt und mehr gedeckt, als bei unbekannten Bedarfen.
Weitere Experimente kamen etwa zu dem Ergebnis, dass bekannte Bedarfe bei Verteilungsprozessen berücksichtigt werden und Bedarfe zielgerichtet befriedigt werden. Allerdings zeigte sich auch: Verschiedene Bedarfe werden als unterschiedlich wichtig und bedeutsam bewertet.
Diese und weitere Experimente aus dem Forschungsprojekt zeigen, dass Bedarf eine Rolle in Verteilungsfragen spielt. „Bedarf kann ein Leitprinzip sein, neben dem aber auch andere Prinzipien wie Leistung berücksichtigt werden müssen, um eine gerechte Verteilung zu schaffen“, fasst Professor Bernhard Kittel von der Universität Wien zusammen.
Gemeinsam mit Stefan Traub entwickelte Kittel eine Theorie bedarfsbasierter Gerechtigkeit, die auf den einzelnen Ergebnissen des Forschungsprojekts beruht.
Anerkennung von Bedarf: Einblicke in die Theorie der bedarfsbasierten Gerechtigkeit
In ihrer Theorie zur bedarfsbasierten Gerechtigkeit legen Traub und Kittel dar, wie Bedarfe identifiziert werden können und wann Bedarfsansprüche in einer Gesellschaft anerkannt werden. Zentraler Punkt der Theorie ist der Bedarfszyklus: Bedarfe müssten festgestellt, anerkannt und in Beziehung zu verfügbaren Ressourcen gebracht werden – ein ständiger Aushandlungsprozess.
Allerdings, so betonen die Autoren, sei diese Theorie induktiv gewonnen, also aus den bisherigen Beobachtungen abgeleitet. „Die Theorie ist Stoff für weitere Forschung. Denn nun gilt es, sie durch weitere Beobachtungen zu überprüfen“, so Kittel.
Dabei könnte unter anderem untersucht werden, ob die Komplexität der Theorie auch praktisch umgesetzt werden kann. Eine weitere interessante Frage: Kann sich Bedarf als Verteilungsprinzip in einer zunehmend heterogenen Gesellschaft mit zersplitterten Identitäten etablieren – oder bräuchte es dafür eine Gesellschaft, die sich als Gemeinschaft versteht?
HINTERGRUND: Forschungsprojekt „Need-Based Justice and Distribution Procedures“
In der interdisziplinären Forschungsgruppe „Bedarfsgerechtigkeit und Verteilungsprozeduren“ untersuchten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich und der Schweiz unterschiedliche Aspekte von Bedarfsgerechtigkeit und Verteilungsprozeduren. Die acht Teilprojekte deckten die Fachrichtungen Philosophie, Politikwissenschaft, Psychologie, Volkswirtschaftslehre und Soziologie ab. Als wissenschaftliche Methodik wurden überwiegend theoriebasierte Laborexperimente genutzt.
In acht Teilprojekten untersuchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zwischen 2015 und 2022 unterschiedliche Aspekte von Bedarfsgerechtigkeit und Verteilungsprozeduren.
Gefördert wurde das Projekt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), dem Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) sowie der Swiss National Science Foundation (SNF).
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Prof. Dr. Stefan Traub
Professor für Volkswirtschaftslehre, insb. Behavioral Economics
Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg
T: 040 6541 2865
E: stefan.traub(at)hsu-hh.de
Originalpublikation:
https://doi.org/10.1007/978-3-031-53051-7
Weitere Informationen:
https://www.hsu-hh.de/bedarfsgerechtigkeit/ Informationen zum Forschungsprojekt
https://doi.org/10.1007/978-3-031-53051-7 Publikation