Erste Beobachtung des nuklearen Zwei-Photonen-Zerfalls in nackten Atomkernen am GSI/FAIR-Speicherring ESR
Erstmals gelang es einem internationalen Forschungsteam unter Leitung von GSI/FAIR in Darmstadt, des Institut de recherche sur les lois fondamentales de l’Univers (IRFU) in Saclay, Frankreich, und des Max-Planck-Instituts für Kernphysik (MPIK) in Heidelberg den Zwei-Photonen-Zerfall in einem „nackten“ Atomkern, dem die gesamte Elektronenhülle entfernt wurde, zu beobachten. Die Messungen an Germanium-72-Kernen wurden im Rahmen des FAIR-Phase-0-Experimentprogramms am Experimentierspeicherring ESR bei GSI/FAIR durchgeführt. Die Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift Physical Review Letters veröffentlicht.
Der nukleare Zwei-Photonen-Zerfall oder doppelte Gammazerfall ist ein elektromagnetischer Prozess, bei dem ein Atomkern in einem angeregten Zustand zwei Gammaquanten gleichzeitig aussendet. Diese neue Form der Radioaktivität wurde erstmals in den 1980er Jahren am MPIK entdeckt, die weitere Erforschung war jedoch aufgrund ihrer Seltenheit bisher kaum möglich. Die Untersuchung dieses Prozesses gibt Aufschluss über grundlegende Eigenschaften des Kerns, wie etwa die unterschiedliche elektrische Polarisierbarkeit in verschiedenen Anregungszuständen.
In den aktuellen Experimenten konnten die Forschenden das seltene Phänomen an einem speziellen Germaniumisotop mit der Massenzahl A=72 beobachten, dem die gesamte Elektronenhülle abgestreift wurde. Dazu wurden Krypton-Ionen mithilfe der bestehenden Beschleunigeranlage von GSI/FAIR auf etwa 70% der Lichtgeschwindigkeit gebracht und anschließend auf eine ca. einen Zentimeter dicke Berylliumplatte geschossen. Beim Aufprall werden die gewünschten Germanium-Ionen zum Teil im ersten angeregten Zustand des Kerns erzeugt, der die gleiche Spin-Paritäts-Quantenzahl 0+ wie der Grundzustand hat.
„In dieser Situation ist der normalerweise dominierende Zerfall durch die Emission eines einzelnen Lichtteilchens, also eines Photons, aufgrund der Drehimpulserhaltung verboten, da das Photon selbst einen Eigenspin von einer Einheit besitzt“, erläutert der Projektleiter Privatdozent Wolfram Korten, Wissenschaftler am IRFU. „Auch alle anderen konkurrierende Zerfallsarten, wie z. B. die Übertragung der Energie auf ein Elektron der Atomhülle, sind bei Kernen, deren Elektronen vollständig entfernt wurden, nicht möglich. Der Zwei-Photonen-Zerfall wird somit zur dominierenden Zerfallsart.“ Diese Situation nutzten die Wissenschaftler*innen, um die partielle Halbwertszeit für die Zwei-Photonen-Emission direkt zu messen.
„Bei relativistischen Energien haben die in einer Kernreaktion erzeugten Ionen zwangsläufig große Geschwindigkeitsunterschiede“, erklärt Professor Yury Litvinov, der für die Durchführung des Experiments bei GSI/FAIR verantwortlich war. „Daher haben wir den Experimentierspeicherring ESR in einem speziellen ‚isochronen‘ Modus betrieben, so dass die Unterschiede in der Geschwindigkeit durch verschiedene Längen der Ionenbahnen exakt kompensiert werden und somit alle Ionen einer Spezies identische Umlauffrequenzen haben. Dadurch konnten wir den Grundzustand und den isomeren Zustand der Germanium-72-Ionen trotz des extrem geringen relativen Massenunterschieds in der Größenordnung von 10-6 zuverlässig trennen.“
„Wir haben jedes Ion im isomeren Zustand zerstörungsfrei verfolgt und den Zeitpunkt seines Zerfalls genau bestimmt. Auf diese Weise wurde die Halbwertszeit für den Doppel-Gamma-Zerfall des erstangeregten 0+-Zustands in Germanium-72 mit 23,9(6) Millisekunden bestimmt, was fünfzigtausendmal länger ist als im atomaren Zustand und stark von den theoretischen Erwartungen abweicht“, fasst Dr. David Freire Fernández, zum Zeitpunkt der Messung Doktorand am MPIK und Erstautor der Publikation, das Ergebnis zusammen. „Die gemessene Halbwertszeit ist zudem um mindestens zwei Größenordnungen kürzer als die kürzeste Lebensdauer, die bisher für gespeicherte hochgeladene Ionen direkt gemessen wurde.“
„Eine solch kurze Lebensdauer war nicht erwartet worden, und wir sind sehr gespannt auf die theoretische Erklärung. Weitere Experimente werden jedoch erforderlich sein, um Theorie und Experiment für dieses seltene Phänomen in Einklang zu bringen“, fasst Professor Klaus Blaum, Direktor des MPIK in Heidelberg, zusammen.
Originalpublikation:
https://journals.aps.org/prl/abstract/10.1103/PhysRevLett.133.022502