HSBI-Studentin ist vor den Taliban geflüchtet und erforscht nun Bildungschanchen für Mädchen und Frauen in Afghanistan
Vor drei Jahren kam sie aus Kabul nach Porta Westfalica. Heute ist Farkhunda Karimi im zweiten Semester des Masterstudiengangs Sozialwissenschaftliche Nachhaltigkeits- und Transformationsstudien an der HSBI und hat ihr eigenes Projekt. #Amoozesh soll als Pilotstudie ausloten, wie deutsche Hochschulen die Bildung von Mädchen und Frauen in Afghanistan trotz Diskriminierung und Repressalien fördern können.
Bielefeld (hsbi). Hoffnung. Es ist ein Wort, das Farkhunda Karimi häufig benutzt, wenn sie von ihrer Lebenssituation erzählt. Schließlich ist es diese Hoffnung, die sie antreibt, seitdem sie am 25. August 2021 mit dem Flugzeug in Deutschland gelandet ist. Ihren Mann hatte sie dabei, ihre beiden Töchter – und einen einzigen Koffer. Alles andere musste Karimi in Afghanistan zurücklassen. „Ich hatte einen guten Job bei der Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit“, berichtet die 36-Jährige. „Ich war im zweiten Semester meines Masterstudiums über Internationale Beziehungen. Vor der Einnahme Kabuls durch die Taliban habe ich ein ganz normales Leben geführt. Dann ist alles kollabiert.“
Mädchen müssen nach der 6. Klasse die Schule verlassen, Frauen wurden von den Universitäten verbannt
Drei Jahre nach ihrer Flucht haben sich einige von Karimis Hoffnungen bereits erfüllt. Sie hat Deutsch gelernt bis hinauf zum Level C1. Sie konnte ihr Studium an der Hochschule Bielefeld (HSBI) fortsetzen. Und sie arbeitet wissenschaftlich an einem Thema, das ihr wie kein anderes am Herzen liegt: die Bildungsförderung von Mädchen und Frauen in Afghanistan. „Amoozesh“ heißt ihr im Mai gestartetes Projekt – das bedeutet auf Dari, einer der beiden Amtssprachen Afghanistans, „Bildung“ oder „Unterricht“. Das Büro der zentralen Gleichstellungsbeauftragten der HSBI übernahm die Anschubfinanzierung, Prof. Oliver Bierhoff, Studiengangsleiter des Masters Sozialwissenschaftliche Nachhaltigkeits- und Transformationsstudien am Fachbereich Sozialwesen, betreut #Amoozesh.
„Die Diskriminierung von Frauen in Afghanistan hat unter den Taliban dramatisch zugenommen und wird Schritt für Schritt schärfer“, sagt Farkhunda Karimi. „Mittlerweile sind sie vom öffentlichen Leben weitestgehend ausgeschlossen.“ Seit Mai 2022 müssen Mädchen nach der 6. Klasse die Schule verlassen, im Dezember 2022 wurden Frauen von den Universitäten verbannt. Die jüngste Menschenrechtsverletzung: Frauen und Mädchen ist es verboten, in der Öffentlichkeit die Stimme zu erheben. „In vielen Bereichen dürfen Frauen nicht mehr arbeiten, zum Beispiel für NGOs“, so Karimi weiter. „Die wirtschaftliche Lage hat sich verschlechtert, die Menschen leben mehr und mehr in Armut. Neuerdings gibt es Diskussionen über Lohnkürzungen für afghanische Frauen.“ Oliver Bierhoff ergänzt: „Die Taliban haben ein System der Geschlechter-Apartheid etabliert, und die Repressionsformen werden tatsächlich immer noch stärker. Das ist auf der Welt beispiellos. Frauen haben es hier noch viel schwerer als zum Beispiel im Iran.“
Online-Kurse, Stipendien und mehr Öffentlichkeit als Chance für Mädchen und Frauen
Der Forschungsansatz von #Amoozesh zielt zunächst einmal darauf ab, Informationen zu recherchieren und erste Kontakte zu möglichen Kooperationspartner:innen zu knüpfen. „Dazu habe ich bereits Interviews über Zoom mit Lehrer:innen und Schulleiter:innen in Afghanistan geführt“, berichtet Farkhunda Karimi. „Jetzt bin ich fast fertig mit der Transkription und der Übersetzung der Gespräche. Es läuft alles nach Plan, und ich bin total zufrieden mit den Ergebnissen.“ Als eine besonders effektive Methode, die Bildung von Mädchen trotz der Unterdrückung zu stärken, haben sich Online-Kurse erwiesen. „In bestimmten Gebieten Afghanistans gibt es das schon“, erzählt Karimi. „Sie finden an Orten statt, die sehr gut versteckt sind. Die Taliban haben hier keinen Zugang.“ Einzelne Schulleitungen haben Erfahrungen damit gemacht und entsprechende Initiativen gestartet. Englisch-Unterricht ist dabei ein Schwerpunkt. „Bei meinen Recherchen habe ich den Eindruck gewonnen, dass die Mädchen in Afghanistan engagiert sind und bereit, bei der Umsetzung solcher Ideen mitzuhelfen“, so Karimi. „Sie sind sehr stark und mutig, trotz der schlimmen Situation.“
Stipendien wären ein weiteres Mittel, Bildungschancen für afghanische Frauen zu eröffnen: „Hier können deutsche Hochschulen und Universitäten direkt unterstützen“, sagt Karimi. Online-Deutsch-Kurse wären eine sinnvolle Vorbereitung dafür. „Jetzt geht es aber erst einmal darum herauszufinden, welche Ansätze überhaupt erfolgversprechend sind“, unterstreicht Bierhoff. „Wo in der Welt gibt es ähnliche Initiativen, und wie lässt sich das womöglich vernetzen? Die internationale Kooperation ist ja nach dem abrupten Rückzug aus Afghanistan 2021 total zusammengebrochen. Hier braucht es einen Neustart – auf Staaten-Ebene und bei den Hilfsorganisationen. Und kleinere Projekte sind natürlich ebenfalls wichtig.“
Dem Thema mehr Sichtbarkeit zu verschaffen, ist ein zusätzliches Anliegen von #Amoozesh. So sammeln Karimi und Bierhoff neben den Interviews weiteres Material zu Afghanistan, um Öffentlichkeit herzustellen. Denn: „Bei all den Krisen, Konflikten und Kriegen, die wir momentan weltweit haben, geht das Thema Afghanistan und die Lage von Mädchen und Frauen dort gerade vollkommen unter“, so Bierhoff.
Ein „Role Model“ zwischen akademischer Karriere und familiären Verpflichtungen
Die Situation am Hindukusch sieht er gleichzeitig als aufschlussreiches Lernfeld. „Es gibt halt auch sehr unangenehme Transformationen in Gesellschaften“, sagt er. „Afghanistan ist geopolitisch und geowirtschaftlich schon seit Jahrzehnten in der Klemme, und die Schwierigkeiten, dort wünschenswerte Transformationen anzugehen, sind offensichtlich. Gleichzeitig steht fest: Es muss bei der Bildung angesetzt werden.“ Für seinen Studiengang sei Farkhunda Karimi daher ein echter Glücksfall. „In einer Blockveranstaltung hat sie die Lage in Afghanistan dargestellt. Alle waren beeindruckt, aus erster Hand so eine Länder-Fallstudie zu bekommen. Es ist einfach sehr wertvoll für die weitere Arbeit, wenn persönliche Hintergründe mit eingebracht werden können.“
Farkhunda Karimi geht selbstbewusst mit ihrer Rolle um, in die das Schicksal sie hineinmanövriert hat. „Ich habe viel Erfahrung und in vielen Projekten in Afghanistan gearbeitet, für verschiedene internationale Organisationen. Ich habe die Expertise, um neue Projekte zu planen und zu implementieren. Und ich denke, ich bin auch eine Art ‚Role Model‘ für #Amoozesh, weil ich selber als afghanische Frau die Bildungschancen und die Gleichberechtigung in Deutschland voll ausschöpfe. Genau das kann ich anderen Frauen in Afghanistan jetzt anbieten, die ihrer Rechte und Möglichkeiten beraubt wurden.“
Eine leichte Rolle ist es allerdings nicht. „Als Ehefrau und Mutter nehme ich mir Zeit für meine Familie“, sagt sie. „Ich besuche Vorlesungen, bereite Prüfungen vor und arbeite an meinem Forschungsprojekt. Einmal pro Woche gehe ich zu meinem Deutschkurs. Da eine Balance zu finden, kann manchmal eine Herausforderung sein, ehrlich gesagt. Aber es macht auch Spaß, gleichzeitig Mutter zu sein und meine akademischen Ziele zu erreichen.“
Zerrissen zwischen Sehnsucht nach der Heimat und dem Freiheitsgefühl in Deutschland
Das Studium an der HSBI hat es Farkhunda Karimi, ihrem Mann und ihren sechs und neun Jahre alten Töchtern ermöglicht, von Porta Westfalica, wo sie zunächst gewohnt haben, nach Bielefeld zu ziehen. „Die HSBI hatte ich im Internet entdeckt“, erzählt sie. „Nach einem Gespräch mit dem International Office der Hochschule wegen des C1-Sprachkurses habe ich mich dann entschieden, hier zu studieren. Mir gefällt Bielefeld. Die Stadt ist größer und besser entwickelt als Porta, und wir haben mehr Möglichkeiten.“
Doch Karimi vermisst Afghanistan. Selbst wenn sie von dort alles andere als gute Nachrichten hört, wenn sie mit ihren Verwandten und Freunden über WhatsApp und Messenger kommuniziert – m it ihrer Mutter und ihrem Vater, von dem sie sich vor ihrer Flucht nicht einmal verabschieden konnte. „Heimat ist immer Heimat. Dort ist mein Herz, und das kann ich nicht vergessen.“ Eine große Zerrissenheit spricht aus dem, wie sie ihre Situation beschreibt: „Seit ich hier bin, genieße ich die Sicherheit, die demokratischen Freiheiten und den Frieden in Deutschland. Das ist mir sehr wichtig. In Afghanistan gab es stets Krieg und Instabilität. Inzwischen habe ich viele nette und hilfsbereite Menschen in Deutschland kennengelernt, die mich bei meinen Integrationsbemühungen unterstützen. Ich bin sehr glücklich, dass ich das Privileg habe, mein Masterstudium an der HSBI fortsetzen zu können. Ich hoffe außerdem auf eine bessere Zukunft für meine Töchter. Der Verlust meines alten Lebens wiegt dennoch schwer, aber ich habe immer noch Hoffnung.“
Eines Tages ihre Eltern in Kundus zu besuchen, ist der große Traum von Farkhunda Karimi. „Vielleicht kann ich ja sogar irgendwann wieder in Afghanistan arbeiten.“ Wer weiß? „Mein Mann heißt Omid. Das bedeutet ‚Hoffnung‘.“
Weitere Informationen:
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