Dr. Stefan Löbbecke: »Interdisziplinarität ist der Schlüssel für grüne chemische Prozesse«
Neun Fraunhofer-Institute haben dreieinhalb Jahre lang im Forschungsprojekt ShaPID (Shaping the Future of Green Chemistry by Process Intensification and Digitalization) zusammengearbeitet; das Projekt endete erfolgreich im Juni 2024. Nachdem sich der Rauch des Innovationsfeuerwerks ein wenig verzogen hat, zieht Dr. Stefan Löbbecke, stellvertretender Leiter des Fraunhofer-Instituts für Chemische Technologie ICT in Pfinztal und Sprecher der Fraunhofer-Allianz Chemie Bilanz und wagt einen Ausblick.
»Defossilierung, Elektrifizierung, Atomeffizienz und grüne Synthesewege sind zurzeit wichtige Strömungen der chemischen Forschung«, erklärt Dr. Stefan Löbbecke. »Sie gehen letztlich auf die in den 1990er-Jahren formulierten 12 Prinzipien der Grünen Chemie zurück. Defossilisierung zielt auf die die Nutzung nicht-Erdöl-basierter Kohlenstoffquellen. Kohlendioxid, CO₂, ist hierbei ein vielversprechendes Molekül, und ShaPID zeigte vielversprechende Verfahren auf, um die Kohlenstoff-Atome aus den CO₂-Molekülen für die Synthese von grünen Monomeren und Biopolymeren zu erschließen.«
Atomeffizienz bezeichnet eine dem Wirkungsgrad vergleichbare Größe chemischer Reaktionen, nämlich den Anteil der von den Ausgangsstoffen in die Produkte überführten Atome. Mit Konzepten der kontinuierlichen Prozesstechnik lassen sich hochreaktive Substanzen in geringen Mengen kontinuierlich herstellen, die einen mitunter mehrstufigen Weg von den Ausgangsstoffen zu den Produkten drastisch verkürzen können, wie Löbbecke erläutert: »Die Handhabbarkeit dieser Zwischenprodukte ist sehr sicher, und ihre unmittelbare Weiterverarbeitung zum Zielprodukt sorgt für hohe Atomeffizienzen, Selektivitäten und Raum-Zeit-Ausbeuten.« Auch hierzu haben die in der Allianz Chemie verbundenen Fraunhofer-Institute im Rahmen des Leitprojekts ShaPID technische Fortschritte erzielt.
Die Quantifizierung der »Greenness« von chemischen Prozessen geht der Frage nach, wie umweltfreundlich eine Substanz erzeugt werden kann. Das beginnt bei den Rohstoffen, deckt den Energieeinsatz aller Prozessschritte ab und betrachtet zudem die Prozesseffizienz, also beispielsweise die Frage, welche unerwünschten Nebenprodukte und Abfallströme dabei entstehen. Hier hat die Entwicklung digitaler Werkzeuge entscheidende Fortschritte ermöglicht, um zum einen vorab verlässliche Aussagen zur optimierten Prozessfahrweise zu treffen. Zum anderen verkürzen Simulationen deutlich die Entwicklungszeit eines Produktes bis zur Marktreife Zusätzlich lassen die Projektergebnisse eine objektive Messung und Bewertung der „Greenness“ chemischer Prozesse in greifbare Nähe rücken.
Wo sieht Löbbecke den größten Fortschritt, den höchsten Leuchtturm des ShaPID-Projekts? »Für mich ist das fachliche Zusammenspiel der Fraunhofer-Institute auf breiter Front der große Türöffner: Elektrochemie, Katalysatorentwicklung, Reaktions- und Verfahrenstechnik, Reaktordesign und -fertigung, Anlagen- und Steuerungstechnik, Modellierung, Simulation und Optimierung sowie Bilanzierung und Nachhaltigkeitsbewertung – jedes Institut brachte seine spezifische Expertise ein. Interdisziplinarität ist der Schlüssel zur Bewältigung bestehender und kommender Herausforderungen in der Chemie.«
Gern blickt Löbbecke in die nahe Zukunft: »Erfahrungsgemäß lebt nicht jede Projekt-Kooperation signifikant länger als das Projekt. Die Vernetzung der an ShaPID beteiligten Fraunhofer-Institute in der Fraunhofer-Allianz Chemie garantiert jedoch eine verstetigte Zusammenarbeit in vielen Folgeprojekten. Dreieinhalb Jahre Vorlaufforschung haben uns als Allianz enorm vorangebracht; der Transfer unserer Arbeiten und Ergebnisse in die Industrie hat erst begonnen. Ein besonderer Dank geht auch an die externen Beiräte aus der Industrie und von den Hochschulen, die das Projekt begleitet haben. Herausragende ShaPID-Entwicklungen haben wir bereits unlängst auf der ACHEMA 2024 präsentiert, zudem hat die Zeitschrift Chemie Ingenieur Technik (CIT) ein Sonderheft zu ShaPID herausgebracht, in dem die vielfältigen wissenschaftlichen Ergebnisse des Projektes nachzulesen sind. Die vielen positiven Rückmeldungen aus der Industrie bestätigen uns, dass wir unsere Forschungs- und Entwicklungsangebote an den aktuellen Bedarfen ausgerichtet haben.«
An ShaPID beteilige Fraunhofer-Institute:
• Fraunhofer-Institut für Angewandte Polymerforschung IAP (Potsdam)
• Fraunhofer-Institut für Chemische Technologie ICT (Pfinztal)
• Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF (Magdeburg)
• Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB (Stuttgart)
• Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und Angewandte Ökologie IME (Aachen)
• Fraunhofer-Institut für Mikrotechnik und Mikrosysteme IMM (Mainz)
• Fraunhofer-Institut für Silicatforschung ISC (Würzburg)
• Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik ITWM (Kaiserslautern)
• Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik UMSICHT (Oberhausen)
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Dr. Stefan Löbbecke
Weitere Informationen:
https://www.shapid.fraunhofer.de Website des ShaPID-Projekts