EbM-Netzwerk kritisiert ExpertInnenrat "Gesundheit und Resilienz" für Stellungnahme zur Prävention
Das EbM-Netzwerk übt deutliche Kritik an der vierten Stellungnahme des ExpertInnenrats „Gesundheit und Resilienz“. Der Fokus auf Verhaltensprävention bzw. medizinische Prävention, fehlende wissenschaftliche Nachweise und mangelnde Transparenz untergraben die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen in wissenschaftliche Politikberatung.
Der „ExpertInnenrat Gesundheit und Resilienz“ hat kürzlich seine Stellungnahme zur „Stärkung der Resilienz des Versorgungssystems durch Präventionsmedizin“ veröffentlicht. Ziel sind Empfehlungen zu Präventionsstrategien und -maßnahmen, die alle Lebensbedingungen berücksichtigen. Dadurch soll die Resilienz des Versorgungssystems gestärkt werden.
Die vierte Stellungnahme ist als Teil einer Reihe gedacht und nimmt insbesondere die Verhaltensprävention sowie individualmedizinische Aspekte in den Blick. Eine solche Fokussierung kann leicht zu einer Verengung der Präventionsdebatte betragen, wie das erst kürzlich intensiv diskutierte Gesunde-Herz-Gesetz belegt.
In der Stellungnahme werden fünf Handlungsfelder benannt: 1. Demographischer Wandel und Multimorbidität, 2. Gesundheitliche Risiken im Kindes- und Jugendalter, 3. Arbeitsausfall durch Krankschreibungen, 4. Arbeitsausfall durch Erwerbsminderung und Berufsunfähigkeit und 5. Strukturelle Probleme im Versorgungssystem. Anhand welcher Kriterien diese Handlungsfelder ausgewählt wurden, wird nicht erläutert.
Ebenso offen lässt die Stellungnahme, wie diese fünf Handlungsfelder zur Systemresilienz („Resilienz des Versorgungssystems“) beitragen. Der ExpertInnenrat spricht nur pauschal davon, dass „Präventionsmedizin und Gesundheitsförderung zur Lösung der aktuellen Herausforderungen im Versorgungssystem beitragen können“. Die Wirksamkeit von Präventionsmedizin und Gesundheitsförderung für Erkrankungen wie Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Demenz, psychische Erkrankungen und (nosokomiale) Infektionen sei wissenschaftlich belegt. Diese Aussage wird mit dem Verweis auf Evidenz getroffen, wiederum, ohne diese aufzuzeigen oder mit Blick auf konkrete Interventionen zu spezifizieren. Demgegenüber gibt es jedoch diverse Beispiele von präventionsmedizinischen Maßnahmen, für die kein positives Nutzen-Schadenverhältnis gezeigt werden konnte.
Bei medizinischen Präventionsmaßnahmen, die in der Regel komplexe Interventionen darstellen und kontextsensitiv sind, eignen sich pauschale Aussagen über den vermeintlichen Nutzen nicht und sind grob irreführend. Nicht alle Früherkennungsmaßnahmen sind unschädlich; nicht alle Impfungen sind für alle nützlich; nicht alle edukativen Maßnahmen zeigen Effekte auf patientenrelevante Endpunkte etc. Das EbM-Netzwerk weist darauf hin, dass jede präventive Maßnahme auf ihre Notwendigkeit und ihr Nutzen-Schaden-Verhältnis unter Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes geprüft werden muss. Indem Präventionsmaßnahmen ohne Evidenz propagiert werden, kann das Problem von Fehl- und Überversorgung und die damit einhergehende Ressourcenverschwendung weiter verstärkt werden. Umso schwerer wiegt, dass medizinische Präventionsmaßnahmen oftmals mit erheblichen Kosten für das Gesundheitssystem verbunden sind. Darum wird in anderen Ländern nicht nur die Effektivität, sondern ebenfalls die Kosteneffektivität von präventiven Maßnahmen vor deren Einführung bewertet.
Neben der Evidenzbasierung, methodischen Glaubwürdigkeit und Transparenz ist gemäß den Prämissen der Evidenzbasierten Medizin/Gesundheitsversorgung die informierte Patientenentscheidung auf Grundlage der besten verfügbaren Evidenz auch bei präventiven Maßnahmen der Goldstandard. Die (evidenzbasierte) Aufklärung der Bürger*innen bzw. die hierauf beruhende informierte Entscheidung findet sich jedoch mit keinem Wort in den Empfehlungen. Für eine Vielzahl an präventiven Maßnahmen stehen schon jetzt Entscheidungshilfen zur Verfügung.
Nicht nachvollziehbar sind auch die Empfehlungen der Stellungnahme, was den präventionspolitischen Kontext angeht. Unter anderem wird ein „Runder Tisch Prävention“ vorgeschlagen. Wie sich ein solches Gremium zu dem vom BMG geplanten Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin oder zur Nationalen Präventionskonferenz verhält, ist unklar. Notwendig sind nicht neue Gremien, sondern eine konzeptionelle Fundierung von Public Health in Deutschland und strategische Straffung der Instrumente.
Die Empfehlungen des ExpertInnenrats entbehren somit nicht nur der Evidenz, sie basieren auf keinem erkennbaren methodischen Verfahren und sie reflektieren nicht den präventionspolitischen Rahmen in Deutschland. Aus Sicht des EbM-Netzwerks verletzt die Stellungnahme des ExpertInnenrats „Gesundheit und Resilienz“ wichtige Grundprinzipien einer wissenschaftlich fundierten, nachvollziehbaren Positionierung und ist ungeeignet, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in wissenschaftliche Empfehlungen zur Vorbereitung politischer Entscheidungen über die Gestaltung des Gesundheitssystems zu fördern.
Prof. Dr. Gabriele Meyer, Mitglied und ehemalige Vorsitzende des EbM-Netzwerks, hatte sich bereits vor Verabschiedung der Empfehlungen von dem ExpertInnenrat zurückgezogen. Der Dissens in der Arbeit und den Ergebnissen des ExpertInnenrats wird in der Stellungnahme nicht deutlich gemacht, vielmehr wird suggeriert, dass alle Mitglieder die Aussagen der Stellungnahme vollauf mittragen. Diese Intransparenz und irreführende Darstellung kritisiert das EbM-Netzwerk aufs Schärfste. Wir sehen unsere kürzlich formulierten Forderungen bestätigt, wissenschaftliche Politikberatung zeitgemäßer, transparenter und methodisch geleitet auszurichten.
Originalpublikation:
https://www.ebm-netzwerk.de/de/veroeffentlichungen/pdf/20240930-stn-gesundheit-resilienz.pdf
Weitere Informationen:
https://www.ebm-netzwerk.de/de/veroeffentlichungen/nachrichten/kritik-expertinnenrat-stellungnahme-zur-praevention (inklusive aller Referenzen)